Sardiniens Blütezeit: Die Nuraghenkultur (1500-500 v.Chr.)
Ihre wirtschaftliche und kulturelle Blüte erlebte die Insel in der Bronzezeit. Die vorgeschichtliche Kultur der Nuragher, nach ihren zyklopischen, aus tonnenschweren Steinblöcken errichteten Rundtürmen (sard. nurakes) benannt, brachte die am höchsten entwickelten Megalithbauten des westlichen Mittelmeeres hervor. Einst standen wohl etwa zehntausend Nuraghen auf Sardinien; über dreitausend von ihnen sind bis heute mehr oder weniger gut erhalten. Fast alle Nuraghen erhoben sich weithin sichtbar in der Landschaft und mußten schon allein durch ihr beeindruckendes Äußeres auf mögliche Angreifer abschreckend wirken.
Der typische Nuraghe besteht aus einem sich leicht nach oben verjüngendem Rundturm mit einem Innenraum, der von einem “falschen Gewölbe” überdeckt wird. Dieses besteht aus übereinandergelegten, vorkragenden Mauerringen, die eine so genannte Kragkuppel bilden. Größere Nuraghen besitzen zwei, gelegentlich sogar drei Stockwerke. Nicht selten wurden die Nuraghen im Laufe der Zeit zu komplexen Festungsanlagen ausgebaut, indem der bereits bestehende Hauptturm von einer Ringmauer mit Seitentürmen umgeben wurde.
Diese meisterhaften Festungsbauten verdeutlichen den kriegerischen Charakter der Nuraghenkultur. Die einzelnen Stämme oder Sippen waren offenbar trotz gemeinsamer Sprache und Kultur auch untereinander verfeindet. In Zeiten kriegerischer Auseinandersetzungen mit Nachbarstämmen dienten die Nuraghen, der jeweilige Hauptsitz einer Sippe, als wehrhafte Zufluchtsstätten. In Friedenszeiten lebten die Menschen in kleinen Dörfern aus eng zusammengedrängten Rundhütten, die äußerlich den heute noch vereinzelt anzutreffenden Hirtenhütten (pinnètas) glichen. Diese Hüttendörfer befanden sich in der Nähe größerer Nuraghen, jedoch oft auch weit von ihnen entfernt. Der genaue Zusammenhang zwischen Wohnstätten und fluchtburgartigen Nuraghen ist nicht geklärt.
Die Nuraghenkultur blühte nicht in insularer Abgeschiedenheit auf, sondern entstand in regem wirtschaftlichen und kulturellen Austausch mit anderen mediterranen Kulturen. Sardinien war als Handelspartner offenbar aufgrund seiner reichen Bodenschätze begehrt, vor allem wegen des im östlichen Mittelmeerraum recht seltenen Kupfers, das auf der Insel in verschiedenen Erzlagern vorkommt. Durch intensive Kontakte mit Zypern und der Mykenischen Kultur (1650-1050 v.Chr.) sowie nachfolgend mit den Phöniziern erhielten die Nuragher wesentliche Anregungen, die zu eigenständigen kulturellen Leistungen weiterentwickelt wurden.
Um das 10. Jahrhundert v.Chr. begannen die Nuragher mit der Herstellung kunstvoller Bronzestatuetten, die als Votivgaben an den Kultstätten aufgestellt, aber auch in großem Umfang exportiert wurden. Dargestellt sind Menschen aus allen Bevölkerungsgruppen, Haus- und Wildtiere, dämonische Wesen, Schiffchen sowie allerlei Werkzeuge und Gerätschaften. Noch heute erhält der Betrachter einen überaus lebendigen Einblick in die sozial geordnete Welt der Nuragher: Die Kleinbronzen zeigen Stammesfürsten, Krieger und Priester, aber auch Hirten und Bauern, Musikanten und Handwerker, Kranke und Geheilte. In den 1970er Jahren wurde die überraschende Entdeckung gemacht, daß die Nuraghenkultur auch freistehende Großplastiken hervorgebracht hat. Die aufgefundenen Bruchstücke von überlebensgroßen Steinfiguren zeigen Bogenschützen und Faustkämpfer. Ihre Datierung ist strittig, doch sollten sie bereits im 8. Jahrhundert v.Chr. entstanden sein (wofür stilistische Merkmale sprechen), so wären sie älter als die frühgriechische Großplastik - was einer wissenschaftlichen Sensation gleichkäme.
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