WAHLDEBAKEL DER SPD
Münte rennt
Von Severin Weiland
Die SPD wirkt am Tag nach der schwersten Wahlniederlage ihrer Geschichte ratlos. Den Reformkurs will die Führung beibehalten und hofft auf einen Aufschwung. Doch den Reformern läuft die Zeit davon.
SPD-Chef Müntefering: Wer modernisiert, wird abgestraft
Berlin - Franz Müntefering benutzt gerne Schlüsselsätze. Sie sind einprägsam. Sie sind kurz. Sie bleiben haften. Am Montag, nach der Sitzung des SPD-Präsidiums, auf dem die niederschmetternden Wahlergebnisse vom Wochenende analysiert worden sind, lautet die zentrale Botschaft des SPD-Parteichefs: "Letztlich wird es sich messen am Erfolg." In abgewandelter Form wird er diese Botschaft dreimal benutzen. Sie klingt wie ein Mantra.
Das "es" steht bei Müntefering für die Reformen, für all das, was Rot-Grün auf den Weg gebracht hat, für die Gesundheitsreform, die Agenda 2010. Es steht aber auch für das, wofür die eigene Klientel die Sozialdemokraten abgestraft hat. Bei der Europawahl, beim Urnengang in Thüringen und bei den Kommunalwahlen in Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Saarland - fast überall hat die SPD verloren.
Es ist eine Landkarte der Verluste, die sich vor den Augen der Genossen am Montag ausbreitet. Da ist es kein Trost, dass die SPD erstmals seit 40 Jahren in der Wahlheimat von Willy Brandt, in Unkel, den Bürgermeister stellt. Satte 12 Prozent hat die SPD hier hinzu gewonnen. In der Gesamtschau aber ergibt sich ein düsteres Bild. In Sachsen hat in einer Gemeinde sogar die rechtsextreme NPD die SPD überholt. Es ist zum Teil beängstigend, was ein Blick auf die Wahlkarte am Tag danach verrät - nicht nur für die SPD.
Wenn man alle Zahlen zusammen habe, räsoniert Müntefering vor den Medien im Willy-Brandt-Haus, werde erst klar, wie massiv die Tragweite der Entscheidungen gewesen sei. In einigen Großstädten sei es "geradezu desaströs".
Schröders: "Ich kann nur diese Politik"
Müntefering fällt am Tag nach der Wahl die Aufgabe zu, die niedergeschlagenen Genossen aufzurichten. "Die SPD wird gebraucht. Auch an einem schwierigen Tag", sagt er. Es sind Appelle. Was soll er auch anderes tun? Die Optionen für die SPD sind denkbar gering. Eine große Koalition? Eine Wiedererweckung des Linkspopulismus à la Lafontaine? Eine Kabinettsumbildung? Oder lieber abwarten und hoffen, dass der Aufschwung doch noch kommt? Deutlich wird: Die SPD will keinen Kurswechsel, zumindest nicht in der Substanz. Der Kanzler sagt am Montag vor der Präsidiumssitzung: "Ich kann nur diese Politik und will nur diese Politik weiterführen."
Müntefering steht dazu. Er spricht davon, dass man besser erkennbar machen müsse, dass die Reformen "allen nützt". Wenn die Regierung so wie bisher weitergemacht hätte, stünde man erst "mittendrin im Debakel". Und dass die Agenda 2010 "weiterentwickelt" werden müsse - nicht korrigiert, wie er nachträglich betont. Es müsse deutlich werden, dass die Agenda sich "für alle lohnt, auch für die sozial Schwachen, die Kleinen". Details nennt er nicht.
Gewerkschafter verpassten SPD einen Denkzettel
Im Präsidium ist an diesem Montag in Anwesenheit des Kanzlers über das Desaster gesprochen worden. Zu beschönigen gibt es an diesem Tag wenig. "Schlimmer geht's nimmer", hat Wolfgang Clement das Wahlergebnis kommentiert. Man baut sich ein wenig auf an den ebenfalls schlechten Ergebnissen anderer EU-Regierungsparteien. Müntefering sagt: "Die notwendige Modernisierung in Europa geht zu Lasten derjenigen, die regieren."
Mai-Demonstration der Gewerkschaften: Der SPD Verluste zugefügt Großbildansicht DPA Mai-Demonstration der Gewerkschaften: Der SPD Verluste zugefügt Kurt Beck steht nach der Sitzung des Präsidiums draußen auf der Straße, umringt von Journalisten. Rund 140 Auftritte hat er in den letzten Monaten absolviert. Der rheinland-pfälzische Ministerpräsident gesteht offen ein, dass er sich vertan habe mit seiner Einschätzung. Die Unsicherheit sei doch tiefer als erwartet. Vor allem bei den Gewerkschaften hat die SPD verloren. Minus 12 Prozent allein unter den Gewerkschaftsmitgliedern.
Bei den nicht gebundenen Wählern sind es weniger gewesen - acht Prozent. Teile der Gewerkschaften haben in den vergangenen Monaten massiv gegen die Agenda 2010 Stimmung gemacht. Sie scheinen damit Erfolg gehabt zu haben. "Wir sind in einer Phase schwieriger Orientierung", verteidigt Müntefering den Reformkurs. In der Partei, sagt er am Montag, werde das "zunehmend" begriffen. Er habe aber die Sorge, dass es "auch im gewerkschaftlichen Raum gelingt".
Doch genau das ist das Problem. Die SPD, das zeigen die Wahlanalysen, hat ihre Stammwähler nicht mehr in ausreichender Zahl an die Urnen bekommen. Und dazu gehören vor allem die gewerkschaftlich gebundenen Arbeitnehmer. In der SPD-Führung gibt es manchen, der jetzt auf Besinnung hofft. "Ich denke, auch jene in den Gewerkschaften, die diesen Kurs fahren, müssen überdenken, ob das richtig ist", sagt Beck. Niemand solle durch die Reformen auf der Strecke bleiben, fügt er hinzu: "Auf der Strecke bleiben die Menschen, wenn wir die solidarischen Sozialsysteme kaputtgehen lassen."
Hoffen auf den Aufschwung
Genau das aber scheinen die SPD-Wähler nicht wahrnehmen zu wollen. Müntefering formuliert es so: Den Menschen werde heute etwas zugemutet, was ihnen erst morgen zugute komme. Und dann spricht er von dem Problem, Akzeptanz zu finden für diesen Kurs. Er sei kein Problem der Vermittlung.
Er gesteht selbstkritisch ein, mit einem Aufschwung im Frühjahr und Sommer gerechnet zu haben. Nun hofft er auf den Herbst und wählt einen Vergleich aus dem Fußball, der an das Spiel vom Sonntag erinnert, als Frankreich in den letzten Spielminuten aus dem Rückstand einen Sieg machte. "In der 90. Minute kann sich da noch viel bewegen, man darf nicht zu früh aufhören."
Kanzler Schröder: Steht nur für diesen Kurs zur Verfügung
Die Ergebnisse der Gesundheitsreform, sagt er, hätten nicht mehr gereicht, um wahlentscheidend zu sein. Die Praxisgebühr zeigt erste Erfolge, Krankenkassen kündigen an, ihre Beiträge senken zu wollen. Und indem Müntefering dieses Beispiel erwähnt, stößt er zum zentralen Problem der SPD und der Koalition insgesamt vor: Die Zeit läuft der SPD davon. Ob die Sozialdemokraten noch Kaninchen im Hut hätten, wird er gefragt. "Kaninchen haben wir nie gehabt - ich glaube nur, dass wir Zeit brauchen", antwortet der SPD-Partei- und Fraktionschef.
Wie viel der Regierung noch verbleibe, wird er gefragt. Müntefering lächelt und flüchtet sich dann in Ironie. "Das ist ja ein Schaltjahr", sagt er, "insofern ist es ein bisschen länger als das vordere - vielleicht reicht's ja doch noch."
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