Ehre, Schande, Achtung - der konservative Islam ist von dieser Dreieinigkeit durchdrungen. In der christlichen Kultur des Westens sind diese Begriffe als Folge der Zunahme von Wohlstand und Bildung, Säkularisierung und Mobilität stark individualisiert. Familien und Clans haben im Westen ihre sozio-ökonomischen Funktionen fast vollständig verloren. Selbst in den traditionellen Familienbollwerken der Länder Südeuropas sind sie sozial weitgehend bedeutungslos geworden. Die Ausnahme bildet der Balkan, wo da und dort noch archaische ethnische Familienstrukturen existieren und die Familienehre bisweilen noch durch Blutrache und Mord gewahrt wird.
Sobald Menschen infolge der Verbesserung ihrer sozio-ökonomischen Situation von ihrer unmittelbaren familiären und ethnischen Umgebung unabhängig werden, appellieren sie immer seltener an die Sicherheit, die Familien und Clans bieten, Familien und Clans verlieren zunehmend an Bedeutung.
Individuelles Verantwortungsbewusstsein und persönliches Schuldbewusstsein - säkulare Ausprägungen kalvinistischer Tugenden - haben im Westen in hohem Maße zur Entwicklung von Freiheit, Demokratie und einer Rechtsmoral beigetragen, die sich in säkularen Gesetzen niederschlägt, Phänomene, die der islamischen Welt fehlen.
Ehre, Scham und Achtung sind in einer traditionellen islamischen Kultur nicht nur konstituierende Merkmale der Beziehungen zwischen dem Individuum und seiner näheren Familie oder seinem ethnischen Umfeld, sie scheinen häufig auch in den Beziehungen zwischen dem Islam einerseits und der säkularen jüdisch-christlichen Kultur andererseits eine Rolle zu spielen. Die Schriften Bin Ladens und anderer islamistischer Denker - wie auch die Kommentare der heutigen arabischen Presse - sind geprägt von der Sehnsucht, respektiert zu werden. Denn viele traditionelle Araber sagen, dass sie durch den gottlosen Westen, der ihre Länder und Völker überrollt und ihre Gesellschaften mit teuflischen Verlockungen vergiftet hat, gedemütigt werden.
Islamisten wie Bin Laden und seine zahllosen Bewunderer fühlen sich in ihrer religiösen und kulturellen Ehre gekränkt. Die kollektive Schande, die sich dadurch über ihre Kultur und Religion (was großenteils identisch ist) ausgebreitet hat, wird so letztlich zum Brandsatz ihres Hasses.
Traditionelle Muslime hassen den Westen, aus Scham darüber, dass sie von ihm erniedrigt werden. Sichtbar wird diese Erniedrigung in ihrer Ohnmacht und Armut; der ungläubige Westen hat dagegen Reichtum und Macht gewonnen. Der kulturelle Überclan, der alle anderen vereint - der Islam - wird dadurch entehrt. Und da es an einer schlüssigen Erklärung für ihre Ohnmacht und Armut fehlt (der Islam sagt ihnen, dass sie jeder anderen Religion überlegen sind), dichten sie dem Westen übernatürliche Kräfte und einen unversiegbaren Moslemhass an.
Bin Ladens Popularität ist nicht frei von schizophrenen Zügen: Er wird bewundert, weil er den "arroganten" Amerikanern eine Lektion erteilt und damit einen Moment lang ein Ventil geschaffen hat für das Gefühl fortgesetzter Demütigung, zugleich aber behaupten seine Bewunderer, er habe nichts getan, die Amerikaner oder die Juden hätten die Twin Towers selbst zerstört. Eine solche Denkweise passt perfekt in eine Schamkultur, deren Leugnungs- und Verdrängungsmechanismen dazu dienen, Einigkeit aufrechtzuerhalten und Gesichtsverluste zu verhindern.
Als während der Phase der Geiselnahmen im Libanon eine der amerikanischen Geiseln von ihrem islamischen Bewacher - der unzählige Male seine Abneigung gegen die Amerikaner kundgetan hatte - freigelassen wurde, fragte der Bewacher seinen Gefangenen, ob er ihm nicht einen Gefallen tun und ihm eine "green card" besorgen könne, damit er - ein strenger Muslim - nach Amerika auswandern könne.
Die meisten jungen Araber erklären, dass sie Amerika hassen, und zugleich wünschen sie sich nichts sehnlicher als ein Leben in Amerika. Die Unmöglichkeit der Auswanderung verstärkt den Hass. Die Frustration darüber, dass die Chancen, am Abenteuer der westlichen Kultur teilzuhaben, gleich null sind, verstärkt die Ablehnung dieser Kultur. Amerika muss vernichtet werden, weil die Beschränkungen der eigenen Kultur die Tore zur Freiheit geschlossen halten. Die Scham - das negativste Gefühl in einer Clankultur - kann erst dann ein Ende finden, wenn der Abstand zum Überlegenen überwunden wird. Wenn möglich durch Emanzipation und Fortschritt, wenn das nicht möglich ist - in den meisten arabischen Ländern besteht für die Mehrheit der Bevölkerung keinerlei Hoffnung auf Verbesserung ihrer Lebensumstände - durch Vernichtung des Überlegenen.
Saddam Hussein, Assad und Gaddafi werden in weiten Kreisen der arabischen Welt für ihre kompromisslose Grausamkeit bewundert, mit der sie ihre Ehre wahren und Respekt erzwingen. Dagegen sind die relativen Grausamkeiten, zu denen sich ungläubige Amerikaner in Afghanistan und verderbte israelische Juden in den besetzten Gebieten hinreißen lassen, ein Beweis ihrer Minderwertigkeit. Dennoch ist der Hass, der Amerika in der arabischen Welt entgegenschlägt, nur teilweise damit zu erklären, was Amerika tut. Amerika wird vor allem für das gehasst, was es ist und was die arabisch-islamische Welt nicht ist: autonom in Macht und Wohlstand. Und darauf hat Amerika als eine Nation Ungläubiger kein Recht.
Bemerkenswerterweise steht Amerika auch bei vielen Europäern in dem Ruf, arrogant zu sein. Und auch hier hat der Vorwurf der Arroganz mit Ohnmacht zu tun. Im vergangenen Jahrhundert ist das vornehme Europa zweimal von den vulgären USA vor dem Untergang bewahrt worden, in den Neunzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts haben die USA zweimal einen innereuropäischen Konflikt gewaltsam beendet, als man feststellen musste, dass die Europäer nicht in der Lage waren, ihren Schlamassel auf dem Balkan selbst in Ordnung zu bringen. Die populären - und auch ein großer Teil der elitären - Kunstformen werden seit über achtzig Jahren von amerikanischen Ideen, Trends und Meinungen befruchtet, die Technologie wird von amerikanischen Ideen und Fortschrittsträumen vorangetrieben, Freizeitgestaltung, Kaufverhalten und Lifestyle folgen amerikanischen Vorbildern. Und doch bleibt angesichts der amerikanischen Macht und Stärke ein gewisses europäisches Unbehagen.
Es wäre unsinnig, dieses Unbehagen mit dem eines konservativen Muslims gleichzusetzen, aber ganz offenkundig lassen sich die politischen und kulturellen Eliten in Europa keine Gelegenheit entgehen, ihre Autonomie gegenüber den USA zu betonen; trotz der umfangreichen, schwerfälligen Bürokratie, die Europa aufgebaut hat, um die Illusion wirtschaftlicher und politischer Einheit herzustellen, ist die Macht der Vereinigten Staaten weiterhin ungebrochen, und diese politischen und kulturellen Täuschungsmanöver der Europäer sind nichts anderes als Verdrängungsrituale zur Verschleierung der Wahrheit. Für die Sicherheit Europas ist das amerikanische Hauptquartier in Heidelberg wichtiger als die Militärspitze in Paris oder Madrid, für die europäische Wirtschaft ist die Börse an der Wall Street wichtiger als die Londoner oder die Frankfurter Börse, für unsere Träume sind die Bilder Hollywoods bestimmender als die von Cinecittà oder Babelsberg.
In Europa und der arabisch-islamischen Welt ertönt fortwährend der Ruf, die Amerikaner seien arrogant. Doch dieser Ruf ist unterschiedlich motiviert: Die so genannte "arabische Straße" wirft den USA vor, dass sie nichts unternehmen, um unterdrückerische, korrupte arabische Regierungen zu Fall zu bringen, während der Vorwurf aus Europa gerade lautet, Amerika plane einen Alleingang und wolle unterdrückerische arabische Regierungen zu Fall bringen.
Und es wird noch absurder: Wenn die USA drohen, eine unterdrückerische, korrupte arabische Regierung zu stürzen, ob es sich nun um Gaddafi oder Saddam Hussein handelt, schließen die Araber - von den Europäern durchaus nicht daran gehindert - die Reihen und werfen den Amerikanern imperialistisches, kolonialistisches Verhalten vor - und unterdessen wird ihr erster Vorwurf, die Amerikaner unternähmen nichts, um die Diktaturen zu beseitigen, munter wiederholt. Diese intuitive arabisch-islamische Verteidigung arabischer Diktatoren ("right or wrong my dictator") oder solcher Diktatoren, die sich islamischer Rhetorik bedienen, lässt die Frage akut werden, ob sich der konservative Islam in einer Gesellschaft, die sich auf der Grundlage von Clans strukturiert hat, jemals an moderne demokratische Modelle wird gewöhnen können - die säkulare Baath-Bewegung in Syrien und im Irak haben sich zwar religiöser, nicht aber korrumpierender Clanstrukturen entledigt (diese eigentlich säkularisierten arabischen Länder gehören zu den grausamsten der modernen Geschichte).
Die Frage kann noch schärfer formuliert werden: Macht es Sinn, in einer arabisch-islamischen Gesellschaft demokratische Prozesse anzuregen, wenn sie nicht - sofern das überhaupt möglich ist - mit Säkularisierung (oder zumindest der Individualisierung und Privatisierung des Glaubens) und "Entclanung" einhergehen?
Der europäische Vorwurf, die Amerikaner handelten unilateral und opportunistisch, verrät viel Heuchelei; natürlich denken die Amerikaner als Erstes an sich selbst, genau wie Deutsche, Portugiesen oder Niederländer, die zähneknirschend - und ohne die transparente demokratische Kontrolle, über die Amerika auf nationaler Ebene verfügt - einen Teil ihres Eigeninteresses den anderen Europäern opfern, in der Hoffnung, dass es ihnen als Großmacht materiell wieder besser gehen wird. Dass die Europäer von den Amerikanern Altruismus erwarten - von wem auch immer -, ist lächerlich. Ihre Grenzen sind für Zuwanderung geschlossen, und ein umfangreiches System von Gesetzen und Beschränkungen schirmt die eigene Wirtschaft mindestens so strikt gegen Produkte aus Asien und Afrika ab wie in Amerika.
Nach europäischer Auffassung sollten sich die USA wieder mehr um allgemeine Belange kümmern, weil ihre enorme Macht Verpflichtungen schafft. Noch nie in der Geschichte der Menschheit habe eine einzelne Kultur die Herzen und Gemüter so überwältigend und einseitig beeinflusst, und das gebe den Amerikanern den moralischen Auftrag, die Welt sicherer und besser zumachen. Nehmen sie sich das aber vor - den notorischen Massenmörder Saddam Hussein zu Fall zu bringen, bevor er Millionen Menschen im Nahen Osten und vielleicht auch in Europa und (vor allem) Amerika tötet - dann wird man sonderbarerweise der Vorwurf laut, sie sollten sich nicht in die inneren Angelegenheiten eines unabhängigen Staates einmischen und sich an die Richtlinien der UN-Resolutionen halten.
Das Schmerzliche ist jedoch, dass jede Rechtsordnung, die nicht davon getragen wird, dass sie notfalls auch mit Gewalt durchgesetzt werden kann, eine papierene Ordnung ist. Ohne das Gewaltpotenzial der USA sind die Vereinten Nationen ein Puppenhaus. Und genau das stört die europäischen Eliten: Ohne die USA sind sowohl die Vereinten Nationen als auch die EU eine barocke Illusion juristischer Autonomie.
In der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776 steht der Satz: "Folgende Wahrheiten erachten wir als selbstverständlich: dass alle Menschen gleich geschaffen sind; dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind, dass dazu Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören."
Es ist einer der bewegendsten revolutionären Sätze, die je geschrieben wurden. Diese Worte haben nicht nur die mächtigste und reichste Nation aller Zeiten entstehen lassen, sondern auch die demokratischste, die Nation mit der größten Freiheit und - so verwunderlich das für manche auch klingen mag - eine Kultur, die viele andere in sich aufsaugt.
Macht ist nicht gleich Unfehlbarkeit. Im Namen der individuellen Freiheit haben die USA schwere Fehler gemacht und immer wieder großes Leiden verursacht, wie jede große und mächtige Kultur (wobei dazugesagt werden muss, dass diese Fehler - man denke an Vietnam - an Umfang und Tiefe nicht mit denen Nazi-Deutschlands oder der Sowjetunion zu vergleichen sind). Doch Amerika unterscheidet sich von anderen Mächtigen in der Geschichte durch seine Fähigkeit, sich selbst zu korrigieren und zu reinigen, durch seine grenzenlose Vitalität und seine lebendigen demokratischen Prozesse, durch seinen unerschütterlichen Optimismus und den verblüffenden Gedanken, das es jedermann frei steht, hier und jetzt glücklich zu sein.
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