Ein altes Märchen elektrisiert die Börsianer: "Goldlöckchen" steht für die perfekte Marktlage. Allen geht es gut, die Kurse steigen unaufhörlich weiter. Die Anleger verlassen sich auf die günstige Bewertung der Aktien. Doch die Risiken blenden sie einfach aus. An den Märkten ist Märchenstunde. Besonders gern hören die Börsianer im Moment die Geschichte vom "Goldlöckchen": Ein kleines Mädchen dringt in das Haus einer Bärenfamilie ein und nascht aus den drei Haferbreitöpfen, die sie dort findet. Der eine ist ihr zu heiß, der andere zu kalt. Der dritte aber, den findet "Goldilocks", wie das Mädchen an Wall Street heißt, gerade richtig.
Genau das ist die Stelle im Märchen, von der die Anleger nicht genug bekommen können. Nicht zu heiß - es droht also keine Überhitzung. Nicht zu kalt - die Unternehmensgewinne bleiben hoch. Die Wirtschaftslage ist eben gerade richtig. Eine Sichtweise, die die Anleger in Sicherheit wiegt. Gut abzulesen ist das am V-Dax, der die erwarteten Schwankungsbreiten im Dax wiedergibt. Je niedriger der Wert, umso sorgloser und optimistischer sind die Anleger. Am Donnerstag fiel der Indikator auf den tiefsten Stand seit elf Monaten.
Und so steigen die Kurse munter weiter. Im Dow Jones wechselt seit Wochen ein Allzeithoch das nächste ab, der Dax notierte mit 6500 Punkten zur Wochenmitte so hoch wie zuletzt im Frühjahr 2001, und die Prognosen reichen mit bis zu 9700 Punkten weit über den bisherigen Rekordstand von 8100 Punkten aus dem Frühjahr 2000 hinaus. Der Optimismus der Anleger speist sich vor allem aus niedrigen Aktienbewertungen, gefallenem Ölpreis, der Erwartung zumindest nicht weiter steigender Zinsen und stabilen Zuwachsraten bei den Unternehmensgewinnen.
Doch die "beste aller Börsenwelten" ist fragiler, als Anleger glauben. "Latente Risiken sind zur Genüge vorhanden, nur wurden sie zuletzt von vielen ausgeblendet", sagt Thomas Nagel, Marktstratege bei Equinet. Wenn aber erst einmal eine schlechte Nachricht die Kurse ins Rutschen bringt, kann auch die gute Stimmung kippen. Und was heute noch positiv ausgelegt wird, beschleunigt dann vielleicht eine mögliche Abwärtsbewegung. Dies sind die wichtigsten Stolperfallen für Dow, Dax und Co. in den kommenden Monaten.
-Ölpreis: Noch im Sommer wurden für das schwarze Gold Rekordpreise von 80 Dollar je Barrel gezahlt. Der Rückgang auf unter 60 Dollar trieb die Börsenkurse voran. Er entlastete die Konzerne auf der Produktionsseite, die Verbraucher behielten nach dem Tanken mehr Geld für den Konsum übrig. Und zwar laut Goldman Sachs allein in den USA auf das Gesamtjahr gesehen rund 90 Milliarden Dollar. Doch in Europa und den USA steht die Heizsaison bevor, die Opec hat die Förderquoten gesenkt, und geopolitische Spannungen wie im Iran oder Nordkorea schwelen weiter. Faktoren, die das Öl verteuern und die Börsen belasten könnten.
.-US-Immobilienblase: Jahrelang hat der Boom auf dem Markt für Häuser und Wohnungen die US-Konjunktur beflügelt. Doch seit einigen Monaten fallen die Preise, was die gesamte Wirtschaft in Mitleidenschaft ziehen könnte. Viele Amerikaner haben den gestiegenen Buchwert ihrer Häuser und die lange Zeit niedriger Zinsen genutzt, um billige Darlehen aufzunehmen, mit denen auch schon mal Autos oder Reisen finanziert wurden. Das half dem Konsum in den USA. Doch mit dem "gefühlten Reichtum" ist es seit der Preiswende bei Immobilien vorbei. Mit dem Kaufrausch auf Pump könnte eine Stütze der Konjunktur wegbrechen und die USA in eine Rezession stürzen.
-Inverse Zinsstruktur: Wenn Investoren für kurzfristige Anlagen höhere Zinsen bekommen als für langfristige, sprechen Experten von einer inversen, also umgekehrten Zinsstruktur. Genau das war Anfang November auf den europäischen Anleihemärkten erstmals seit mehr als sechs Jahren der Fall. Für Anleger heißt das, sie bekommen für eine langfristige Bindung ihres Kapitals nicht mehr die normalerweise übliche Prämie für das Risiko, das sie eingehen. "Vergleichbare Situationen führten in den USA in sechs von acht Fällen während der vergangenen 40 Jahre zu einer Rezession", sagt Markus Zschaber, Portfoliomanager bei der V.M.Z. Vermögensverwaltung.
-Zu hohe Gewinnprognosen: Seit die Konzerne nach dem Platzen der Aktienblase im großen Stil restrukturiert und Stellen abgebaut haben, wachsen ihre Gewinne zweistellig. Viele Analysten erwarten, dass das so weitergeht. Doch nach einer Studie der DZ-Bank ist der Anteil der Ergebnismeldungen von Dax-Konzernen, die die Konsenserwartungen der Experten übertreffen, in der zu Ende gehenden Berichtssaison von zuletzt 63 auf 44 Prozent gesunken. "Die Firmen haben ihre Sparpotenziale ausgeschöpft, hohes Gewinnwachstum ist immer schwerer zu generieren", sagt Zschaber. So hat sich der Anstieg der Profite der Konzerne zum dritten Mal in Folge abgeschwächt. Und sobald die Analysten darauf mit der Senkung der Gewinnprognosen reagieren, steigt automatisch das Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV). Das macht Aktien teurer.
-Dollarschwäche: Der Dollar schwächelt. "Schon in wenigen Monaten könnte der Euro zum Dollar bei 1,35 stehen", sagt Jörg Isselmann, Leiter Devisenhandel bei der BHF-Bank. Grund für den aktuellen Rutsch des Greenback ist die Vermutung der Marktteilnehmer, die Europäische Zentralbank könnte 2007 den Leitzins doch stärker erhöhen als angenommen. "Die EZB wittert offenbar Inflationsgefahr", sagt Isselmann, "ein Leitzins von vier Prozent ist denkbar." Als ausgemacht galt bisher ein Schritt auf dann 3,50 Prozent und anschließend eine Pause. Verringert sich aber die Zinsdifferenz zwischen den USA, wo der Leitzins bei 5,25 Prozent steht, und der Euro-Zone, so fließt mehr Kapital in den wegen der fundamentalen Probleme der US-Wirtschaft favorisierten Euro. "Ein fallender Dollar bedeutet Probleme für die europäische Exportwirtschaft", sagt Isselmann.
Alles gerade richtig also? Goldlöckchen kam im Märchen mit dem Schrecken davon (siehe Kasten unten) und lebte glücklich und zufrieden. Wer das als Anleger auch anstrebt, behält die aktuellen Risiken an der Börse besser im Blick.
Michael Höfling
Artikel erschienen am 26.11.2006
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