Geht der Horrortrip für Börsianer weiter? Oder steht die Wende zurück in Richtung 7000 kurz bevor? Die Aussichten fürs zweite Halbjahr
von Carsten Lootze und Joachim Spiering
Es herrscht Verwirrung. An den Börsen, an den Finanzmärkten, in der gesamten weltweiten Wirtschaft – und in Politik und Presse sowieso. Das erste Halbjahr 2008 brachte eine offenbar für Investoren weltweit nicht mehr zu verarbeitende Fülle an Nachrichten, an neuen Positiv- und Negativrekorden. Die schiere Masse und die Art der Neuigkeiten lassen auf eine fundamentale Änderung der meisten bisher gültigen Regeln, Relationen und Bewertungen in der Weltwirtschaft schließen.
Die logische Folge: Je größer die Unsicherheit bei der Einordnung von Nachrichten, desto höher das Risiko, desto höher die Risikoprämien, die Investoren bei ihren Investments fordern. Die fundamentale Konfusion ist an den Börsen überdeutlich abzulesen: Der DAX legte ausgerechnet zu seinem 20. Geburtstag mit einem Minus von 20,4 Prozent das schlechteste erste Halbjahresergebnis seiner jungen Geschichte hin. Auch der viel ältere Dow Jones bezeugt tiefe Verunsicherung. Seit 1970 war kein erstes Halbjahr mehr so schlecht wie das gerade abgelaufene. Fasst man alle Indizes weltweit zusammen, so gab es seit 22 Jahren kein schlechteres erstes Halbjahr.
"Eine Koinzidenz von Schocks" nennt Konrad Hummler, Präsident Schweizerischer Privatbankiers und Teilhaber des Bankhauses Wegelin & Co, das, was sich derzeit in der Weltwirtschaft abspielt. Wobei Schock nichts mit den Folgen eines Unfalls zu tun hat. Gemeint ist: Gleichzeitig aber nicht unbedingt aus denselben Gründen kommt es an gleich mehreren Märkten von globaler Bedeutung zu ruckartigen Veränderungen als Folge lange aufgebauter Ungleichgewichte.
Erfahrene Praktiker wie Hummler oder Theoretiker wie der US-Starökonom Paul Krugman sehen mindestens drei globale Größen, die auf dem Weg zur nachhaltigen Neubewertung sind: Auf der Suche nach dem neuen Gleichgewicht sind weltweit Angebot und Nachfrage auf den Rohstoffmärkten. Parallel dazu sind die Finanzmärkte als Folge der Subprime-Krise dabei, die Risikokosten, und damit die Finanzierungskosten für Unternehmen und deren Investitionen, neu zu justieren. Und nicht minder wichtig: Die Schwellenländer müssen nach dem jahrelangen Boom ihre bewusst unterbewerteten Währungen jetzt den neuen Größen und der Leistungsfähigkeit ihrer Volkswirtschaften und Unternehmen anpassen.
Wie lange dauert die Anpassung? Und wie entwickeln sich die Börsen auf dem Weg zu den neuen Gleichgewichten? Die weltweit von den Experten gehandelten Szenarien für die nächsten sechs oder zwölf Monate sind höchst unterschiedlich. "Man kann nur mit Vorsicht Prognosen abgeben", hält sich Professor Kai Carstensen vom Institut für Wirtschaftsforschung (ifo) an der Universität München im Gespräch mit €uro am Sonntag bedeckt.
In ihrer Konjunkturvorschau für 2008/2009 kommen die ifo-Experten zumindest zu dem Schluss: "Die Expansion der Weltwirtschaft wird sich im Prognosezeitraum spürbar abkühlen." Die Schätzungen von OECD, Internationalem Währungsfonds und den großen Banken weltweit für das Wachstum der Weltwirtschaft in den kommenden zwölf Monaten liegen bei etwa vier Prozent. So schlimm hört sich das nicht an.
Und was ist bei hohem realem weltwirtschaftlichem Wachstum mit den derzeit hoch gehandelten Szenarien wie Rezession, Inflation und Stagflation? Privatbanker Hummler sieht Klärungsbedarf, denn: "Das alles zusammen und gleichzeitig geht nicht." Was nicht heißt, dass die Kapitalmärkte nicht weiterhin so tun, als drohten reihenweise Unternehmenszusammenbrüche. Ablesbar etwa an den Anleihekursen für erstklassige Unternehmensanleihen.
Das entscheidendste Kriterium für die künftige Entwicklung der Weltwirtschaft auf dem Weg zum Abbau der Ungleichgewichte auf den Rohstoff-, Finanz- und Währungsmärkten ist für alle Experten die Inflation – und die Reaktionen der Notenbanken rund um den Globus auf die aktuell hohen Werte. Einen Vorgeschmack auf die Entscheidungen der Währungshüter gab am Donnerstag schon einmal die -Europäische Zentralbank (EZB): Der Leitzins – also der Zins für die Versorgung der Kreditwirtschaft mit Zentralbankgeld – werde von derzeit vier auf 4,25 Prozent erhöht, um die steigende Inflation im Euroraum zu bremsen, teilte EZB-Chef Jean-Claude Trichet am Donnerstag in Frankfurt am Main mit. Zurzeit liegt die Teuerung um vier Prozent, der Sollwert liegt bei unter zwei. Hohe Inflation hieße für die Abbildung von Gewinnerwartungen in Börsenkursen: hohe Abzinsungsraten und sinkende Kurse.
Das Inflationsproblem ist zum Großteil ein Ölproblem und vielleicht auch ein Problem getrübter Wahrnehmung. "Momentan hängt die Inflation sehr stark am Ölpreis, und der wird die Inflation dieses und nächstes Jahr erheblich beeinflussen", erklärt ifo-Experte Carstensen. Wobei man genau hinsehen müsse, schließlich werde die Inflationsrate aus einem Warenkorb ermittelt, der in Nahrungsmittel, Energiepreise und einen Rest an anderen Gütern aufgeteilt ist. "Getrieben wird die Inflation derzeit ausschließlich durch Energie- und Nahrungsmittelpreise." Beim Rest, der so genannten Kerninflation, sei es "gar nicht mehr so viel".
Für das Öl haben die Forscher des ifo ein Basisszenario entwickelt: "Bis Ende 2009 geht der Ölpreis langsam auf 120 Dollar zurück, da die Nachfragesituation weltweit nach unserer Prognose zurückgeht", so Carstensen. "Dann wird die Gesamtinflation etwas gedämpft. In Deutschland liegt sie dann gesamt bei 3,1 Prozent in diesem Jahr und wird 2009 auf 2,4 Prozent zurückgehen. Das wird speziell am Jahresende deutlich."
Szenario 2: Würde der Ölpreis auf 150 Dollar pro Barrel bis Ende 2009 ansteigen, läge die Inflation wieder bei drei Prozent. "Dieses Jahr tut sich nicht mehr viel, wir sind schon so weit oben", sagt Carstensen für den Fall 2, bei dem die Inflation dann aber fest bleiben würde. Wobei die unpräzise Verwendung des Begriffs Inflation Anleger schon auf die falsche Fährte locken kann. "Preisveränderungen müssen nichts mit Inflation zu tun haben", sagt Konrad Hummler. Die Tatsache der Verteuerung einzelner – wenn auch enorm wichtiger – Faktorpreise wie Nahrung und Energie seien nicht gleichbedeutend mit einer Geldentwertung in den Industriestaaten, für die der eidgenössische Banker auch keine Indizien wie etwa sichtbare Inflationserwartungen innerhalb der Zinsstrukturkuve sieht.
Der "kleine Zinsschritt als Warnsignal" der EZB entspricht deshalb den Forderungen der Experten. Carstensen: "Die EZB hat ganz klar als erste Aufgabe, das Inflationsziel zu erreichen, Konjunktur steht erst an zweiter Stelle. Da der Preisdruck in Deutschland, aber auch in Europa insgesamt schon nachlässt, sind starke Zinserhöhungen momentan auch gar nicht notwendig." Bleibt für das zweite Halbjahr das Problem der Lohn-Preis-Spirale als Inflationstreiber, schließlich haben Gewerkschaften in ganz Europa als Reaktion auf die Teuerungsrate schon reflexartig nach fünf Prozent und mehr Gehaltsaufschlag gerufen. "Wenn sich solche Zweitrundeneffekte ankündigen und das flächendeckend in den großen Ländern der EU passiert, dann wird die Zentralbank handeln und die Zinsen erhöhen", so Carstensen. Da deshalb letztlich die Konjunktur gebremst würde und damit Arbeitsplätze verloren gingen, erwartet der Münchner Professor moderate Lohnabschlüsse. Und hofft auf die Vernunft der Politik: "Ich warne vor kurzfristigen aktionistischen Maßnahmen, wie den Benzinpreis für Arme zu senken oder, wie Frankreichs Präsident Nikolas Sarkozy fordert, die Mehrwertsteuer auf Sprit zu reduzieren. Das sind vollkommen falsche Maßnahmen. Es ist nicht einzusehen, Steuern auf einzelne Güter zu senken, nur weil es teurer wird."
Und das Gespenst der Stagflation, wie es sie in den 70er-Jahren des vorherigen Jahrhunderts gab? "Damals hatten die Zentralbanken das Gefühl, wenn die Wirtschaft abschmiert, sollte man Zinsen senken. Bei einem Angebotsschock wie dem Ölpreis damals ist das die falsche Methode. Aber die Zentralbanken weltweit haben ihre Lektion gelernt, wissen, was sie tun dürfen und was nicht", ist Carstensen überzeugt. "Damit ist der größte Schrecken einer Stagflation eigentlich weg."
Die Strategie für das zweite Halbjahr? Nüchtern zu bleiben angesichts der Aufregung um Inflation und Subprime-Folgen, hat im ersten Halbjahr wenig genutzt. Der Fondsbranche etwa bescherten die Börsenturbulenzen eine der schlechtesten Halbjahresbilanzen seit Jahren. So zogen europäische Anleger allein von Anfang Januar bis Ende März 31 Milliarden Euro aus Publikumsfonds ab, zeigen Zahlen des Branchenverbands Efama. "Aktienfonds litten unter den starken Kurseinbrüchen", sagt Efama-Forschungsdirektor Bernard Delbecque. "Ansehnliche Zinsen auf Bankguthaben schmälerten dagegen die Attraktivität von Rentenfonds." Für das zweite Quartal, für das noch keine Zahlen vorliegen, erwartet die Efama eine ähnliche Entwicklung.
In Sachen Aktien und ihren Indizes ist allerdings schon klar, dass die zu Jahresbeginn ausgegebenen Kursziele der Banken kaum noch erreicht werden dürften. Im Schnitt lagen sie bei 8500 Punkten für den DAX, die Spanne reichte dabei von 7900 bis 9000 Punkten. Um das durchschnittliche Kursziel von 8500 Punkten zu erreichen, müsste der Index bis Ende Dezember um 35 Prozent zulegen. Ein Szenario, das kaum zu erwarten ist. Auch statistisch lässt sich die Hoffnung nicht belegen, dass nach einem grauenhaften ersten Halbjahr in der zweiten Jahreshälfte mit einer kräftigen Erholung zu rechnen ist.
Das Problem der Voraussagen war, dass die Trends zwar häufig richtig gesehen wurden, nicht aber deren Auswirkungen. So räumt die französische Bank BNP Paribas ein, dass sie nur mit einem leicht schwächeren Dollar gerechnet hatte (und nicht mit Verlusten von 15 Prozent gegenüber dem Euro), dass sie von Zinssenkungen um 50 Basispunkte in Europa ausgegangen war (und nicht von einer Zinserhöhung wie am vergangenen Donnerstag), dass sie weiterhin schwache Anleihekurse erwartet hatte (und keine Kursanstiege von 30 Prozent) und dass sie vor allem auch nicht mit der "Kreativität europäischer Banken im Geldverlieren" gerechnet hatte.
Gleichwohl war die BNP wie viele andere Banken auch im ersten Halbjahr von einer schwächeren Börse ausgegangen. Die Unicredit/HypoVereinsbank (HVB) sah beispielsweise im ersten Halbjahr ein Rückschlags-potenzial bis auf 7200 Punkte, Sal. Oppenheim taxierte den Korrekturbedarf des DAX sogar bei 6500 Punkten und liegt damit ausgesprochen gut. Von den hohen Kurszielen des deutschen Leitindex bis zum Jahresende sind die meisten Banken allerdings abgerückt.
"Es wird schwierig bis durchwachsen", prophezeit Aktienstratege Tammo Greetfeld von der HVB. Ähnlich sehen das die meisten anderen Experten. "Der Markt wird sich wohl unter Schwankungen seitwärts bewegen", meint der Münchner Vermögensverwalter Jens Ehrhardt. Auch die Argumente der Experten ähneln sich. So rechnet Greetfeld im zweiten Halbjahr mit einem stärkeren konjunkturellen Gegenwind, hervorgerufen durch sinkende Konjunkturindikatoren, fortschreitenden Belastungen aus der Kreditkrise und das Risiko, dass sich hohe Inflation und rückläufige Wachstumsdynamik zu einem Stagflationsszenario verschärfen.
Auch dass die Banken so schlecht dastehen, bewertet Greetfeld negativ. "Ohne eine nachhaltige Stabilisierung der Bankenindizes wird es keine Erholung der Aktienmärkte geben, die über eine Bärenmarktrally hinausgeht." Auf der anderen Seite sieht er auch einige positive Faktoren. Viele Aktien seien – gemessen an den Gewinnschätzungen – günstig bewertet. Die Dividendenrendite des DAX sei hoch, und vor allem sei zu erwarten, dass im Vorfeld der Einführung der Abgeltungsteuer viel Geld in deutsche Aktien fließen werde. "Auf der Liquiditätsseite erwarten wir im zweiten Halbjahr sehr hohe Mittelzuflüsse in Aktienfonds", sagt Greetfeld. Inwieweit das den Markt bewegen werde, sei allerdings "sehr schwer einzuschätzen". Nach Ansicht der Unicredit-HVB dürfte der DAX Ende des Jahres bei 7200 Punkten stehen.
Vermögensverwalter Jens Ehrhardt dagegen erwartet den DAX zum Jahresende unter dem aktuellen Niveau. Auch BNP Paribas ist skeptischer. Die Franzosen haben zuletzt ihr sehr optimistisches Zwölfmonatskursziel von 8600 Punkten kassiert und erwarten den DAX zum Jahresende bei 6500 Punkten.
Wie entwickeln sich die Gewinne der Unternehmen? Bei schwachen Kursen könnten zumindest hohe Dividendenrenditen winken. Laut BNP Paribas haben sich die Gewinnschätzungen für europäische Firmen mit einem Plus von zehn Prozent seit Jahresanfang kaum geändert (abgesehen vom Bankensektor). Sieht man jedoch etwas genauer hin, sind die Unterschiede in den einzelnen Branchen groß. So wird in den drei Sparten Chemie, Basisrohstoffe sowie Öl und Gas inzwischen ein Gewinnwachstum von bis zu 25 Prozent in diesem Jahr erwartet, deutlich mehr als noch zum Jahreswechsel. Andere Branchen wie Technologie- oder Medienwerte haben dagegen mit Wachstumsraten im niedrigen einstelligen Bereich zu kämpfen, Banken oder Versicherer sogar mit Gewinnrückgängen.
Was also soll ein Anleger jetzt machen? Klar ist: Grund zur Eile besteht nicht, die Aktienmärkte können durchaus noch weiter unter Druck geraten. Andererseits scheinen sich auf diesem Niveau langfristig interessante Investmentchancen zu ergeben. "Ich würde auf eher defensive Titel wie Versorger-, Pharma- oder Telekom-Aktien setzen", rät Fondsmanager Ehrhardt. Ähnlich sieht das die Unicredit. Auf ihrer Empfehlungsliste stehen Werte wie Altana, BASF, K + S, Merck und Rheinmetall. Auf internationaler Ebene laufen derzeit die Aktien von Wal-Mart, Brazilian Petroleum, Potash, The Mosaic oder BHP Billiton besonders gut. Selbst die Deutsche Telekom machte allein in der vergangenen Woche gut fünf Prozent. Das Kalkül der Börsianer ist klar: Mit einer Dividendenrendite von über sieben Prozent und sicher kalkulierbarem Gewinn sind Werte wie die Telekom plötzlich begehrt. Mit solchen Titeln können Anleger dann auf das Ende der Verwirrung warten. Und vielleicht sogar ein paar neue Regeln für ihr künftiges Anlageverhalten entwickeln. |