Polizei und Justiz in Bulgarien, das nach dem Willen der Brüsseler EU-Kommission möglichst zum 1. Januar 2007 Mitglied der Europäischen Union werden soll, erfüllen Europas rechtsstaatliche Standards bei weitem nicht. Zu diesem Ergebnis kommen bisher geheim gehaltene Gutachten zweier deutscher Fachleute zur Reform der Justiz und zur Bekämpfung der Organisierten Kriminalität (OK) in dem Beitrittsland. Die beiden Prüfberichte, die der FOCUS Online-Redaktion vorliegen, entstanden im März 2006 nach jeweils einwöchigen Bulgarien-Missionen im Auftrag der EU-Kommission.
„Der Experte war überrascht zu erfahren …“
Im Umgangsdeutsch bedeutet diese Diplomatenformel: schier unglaublich. Kriminalhauptkommissar Klaus Jansen, Vorsitzender des Bundes Deutscher Kriminalbeamter (BDK) und Autor des EU-Reports über Bulgariens OK-Bekämpfung, benutzt sie auf 27 Seiten ein halbdutzend Mal.
So staunte der Deutsche über die Auskunft des Vize-Innenministers Kotzev, dass die nationale Polizei-Spezialbehörde zur OK-Verfolgung die Untersuchung von Auftragsmorden den Ortspolizeien überlässt. Jansens Frage, wie denn auf diese Weise „die notwendigen Erkenntnisse über den Zusammenhang dieser Verbrechen mit OK-Gruppen gewonnen werden“, blieb unbeantwortet. Immerhin kennt die Behörde 233 Banden mit mehr als tausend identifizierten Personen. Die EU verzeichnete seit 1992 mehr als 170 Auftragsmorde in Bulgarien. Größtes Aufsehen erregte am 22. Februar die Hinrichtung der landesweit bekannten OK-Größe Ivan Todorov am hellichten Tag mitten in Bulgariens Hauptstadt – ausgerechnet während der EU-Gutachter mit Sofias Spezialpolizei konferierte. Er selbst, schreibt Jansen, habe die Kollegen informiert, ansonsten „erhielten sie keinerlei Hinweis“.
Verharmlost, verheimlicht, abgekartet
Gleich weit entfernt von entschlossener Polizeiarbeit erscheint die Verfolgung des Rauschgift- und des Menschenhandels. Wiederum war Jansen „überrascht zu erfahren“, dass die Fahnder zwischen Balkan und Schwarzem Meer „Drogen- und Geldwäschefälle nicht in Verbindung bringen“, obwohl ihr Land als Rauschgift-Drehscheibe zwischen Vorderasien und Europa herhalten muss. Frauenhandel gilt als ebenso schweres Kriminalitätsproblem – doch Jansen bekam zu hören, dass die OK-Verfolger „der Ansicht sind, Frauen aus Bulgarien nähmen bloß den Vorteil der liberalen EU-Regeln wahr, um ihren Lebensunterhalt mit Prostitution zu verdienen“.
Gastgeber meist widerwillig
Regelrecht verladen fühlte sich der EU-Prüfer von offensichtlich abgekarteten Darstellungen der bulgarischen Seite. Wenn Jansen „die präparierten Vorträge unterbrach und nach mehr oder anderen Informationen fragte“, zeigten sich die Gastgeber meist widerwillig oder verschanzten sich hinter Geheimhaltung. Dafür führten sie just während seines Aufenthalts einen großen Schlag gegen Geldfälscher vor und stellten 440 000 Euro „Blüten“ sicher. Besonders interessant fand Jansen den Widerspruch „dieser erfolgreichen Operation“ zum kurz zuvor von Innenminister Petkov gehörten Selbstlob, „dass Bulgarien kein Herstellungsland für Falschgeld mehr ist“.
Mit seinem Scharfsinn hat der Kriminalist sich in Sofia Feinde geschaffen. Sein vertraulicher Bericht landete alsbald bei einem bulgarischen Boulevardblatt, das den Verfasser wie einen Feind der Nation hinstellte. Das Innenministerium richtete Protestnoten an die Botschaften der EU-Staaten. Von seiner bulgarischen BDK-Partnergewerkschaft erfuhr Jansen, dass sie unter Verräter-Verdacht stehe und Verbotsdrohungen erhalten habe.
„Chaotische Reform des Justizsystems“
Indessen hat der EU-Kriminalgutachter sich, anders als die Justiz-Berichterstatterin, mit ausdrücklichen Schlussfolgerungen über Bulgariens Europa-Reife zurückgehalten. Wie Jansen darüber denkt, steht zwischen seinen Zeilen. Die Kölner Verwaltungsrichterin Susette Schuster dagegen fordert die EU-Kommission auf, die in Artikel 38 des Beitrittsvertrages verankerte Schutzklausel für die Bereiche Justiz und Inneres in Kraft zu setzen. Danach könnte Bulgarien zwar Mitglied der EU werden – wegen immer noch schwer wiegender Verstöße gegen deren Standards aber vorerst nicht mit seinem Polizei- und Justizsystem. Diese unterlägen für bis zu drei Jahre, wenn nötig noch länger der fortdauernden Fortschrittskontrolle durch die EU-Kommission.
Schuster begründet ihren dringenden Rat in erster Linie mit einer im April vom bulgarischen Parlament beschlossenen Verfassungsänderung, die dem Justizminister direkten Einfluss auf Gerichtsverfahren erlaubt. Während die EU strikte Unabhängigkeit der Justiz von der Regierung verlangt, „zielt die Verfassungsänderung klar in die entgegengesetzte Richtung“, warnt die Gutachterin. Ferner rügt sie zahlreiche Mängel im Zivilprozess-, Strafprozess- und Kriminalermittlungsrecht und „bezweifelt, dass diese weit reichenden Anforderungen bis Ende 2006 angemessen und anwendungsfähig erfüllt werden können“.
In fünf Punkten fasst die resolute Richterin die „Gründe für die Anwendung der Schutzklausel“ gegen Bulgariens zweifelhaften Rechtsstaat zusammen: – „die uneinheitliche Rechtsprechung“; – „das Ausmaß des Misstrauens der bulgarischen Bevölkerung gegen ihr eigenes Justizsystem (wenn die eigenen Bürger so heftig misstrauen, warum sollten die Mitgliedstaaten vertrauen?)“; – „die chaotische Reform des Justizsystems (siehe Verfassungsänderungen)“; – „die relativ geringe technische Qualität von Gesetzentwürfen“; – „die offene Günstlingswirtschaft“ bei der Berufung von Richtern „ist ein klares Zeichen für niedrige professionelle Standards bei hochrangigen Beamten“.
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