Am Donnerstag will Kanzlerin Merkel eine wegweisende Rede zu ihrer EU-Politik halten. Ein Forsa-Umfrage im Auftrag von stern.de hat nun Überraschendes zu Tage gefördert: Die Deutschen glauben unerschütterlich an die Bedeutung Europas.
Eine besonders gute Figur hat die Europäische Union im vergangenen Jahr nicht gemacht. Erst scheiterte die Verfassung, dann stritten die Regierungschefs übers Geld, dann über die Dienstleistungsrichtlinie. Die Deutschen scheinen diese Krisensymptome dennoch nicht zu schrecken. Im Gegenteil. In einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Forsa im Auftrag von stern.de gaben 50 Prozent der befragten Bürger an, das Thema Europa sei für sie im vergangenen Jahr wichtiger geworden. Nur 26 Prozent sagten, Europa habe an Bedeutung verloren. Auch das Projekt einer europäischen Verfassung unterstützen die Deutschen weiterhin. 61 Prozent der befragten Bundesbürger sind der Meinung, dass die Europäische Union diese einheitliche Verfassung benötigt. Nur 31 Prozent halten die Verfassung für überflüssig.
Merkel skizziert Europa-Politik Die Forsa-Umfrage belegt die Europa-Treue der Deutschen just zu einem Zeitpunkt, an dem die Bundesregierung sich anschickt, eine führende Rolle in der Europäischen Union zu übernehmen. Berlin übernimmt im Januar 2007 den EU-Ratsvorsitz. Ein halbes Jahr werden die Deutschen die EU-Politik steuern und moderieren . Am Donnerstag will Bundeskanzlerin Angela Merkel im Bundestag zu diesem Thema eine Regierungserklärung abgeben. Nach Medienberichten will sie darin Eckpunkte der deutschen Ratspräsidentschaft skizzieren - und vor allem das weitere Vorgehen in Sachen Verfassung. Letztere war im vergangenen Jahr durch gescheiterte Referenden in Frankreich und den Niederlanden ins Stocken geraten.
"Deutsche haben positiven Bezug zu Europa" Die Europa-Experten der Parteien im Bundestag lobten das Umfrage-Ergebnis einhellig. "Die Deutschen haben erkannt, dass es immer mehr entscheidende Themen gibt, die Deutschland nicht alleine regeln kann", sagte Michael Stübgen, europapolitischer Sprecher der Unions-Fraktion, stern.de. So könne etwa kein Staat der Globalisierung kaum allein begegnen. Das gelte auch für die Frage der künftigen Energieversorgung und die Sicherheitspolitik. "Die Deutschen haben einen positiven Bezug zu Europa. Es herrscht kein Misstrauen gegenüber der europäischen Idee, sondern gegenüber den politischen Akteuren", sagte Rainder Steenblock, Europa-Experte der Grünen, stern.de. Der europapolitische Sprecher der Linkspartei im Bundestag, Diether Dehm, lobte zwar die augenscheinliche Popularität Europas, prangerte aber die prinzipielle Ausrichtung der EU an. "Die hausgemachte Verfassungskrise ist ein Resultat des seit Maastricht eingeschlagenen, radikal-neoliberalen, militär-orientierten Kurses der EU", sagte Dehm stern.de. Dehm forderte eine "tiefgreifende Demokratisierung". Streit über Marschroute Jenseits der Umfragen ist innerhalb der europäischen Union ein Streit über die künftige Marschroute ausgebrochen. Während einige Staaten darauf dringen, den Ratifikations-Prozess der Verfassung fortsetzen - Estland ratifizierte den Text am Dienstag als 15. EU-Staat, wollen andere die Verfassungsfrage zunächst tiefer hängen, um erst einmal mit fassbaren Ergebnissen Vertrauen in die Leistungsfähigkeit der EU zu schaffen. "Wir brauchen ein Europa der Ergebnisse", sagte EU-Kommissionspräsident Jose Manuel Barroso am Dienstag. Am Mittwoch will er seine Pläne in Brüssel erläutern. Auf dem Wiener Gipfel der Staats- und Regierungschefs im Juni will Barroso zudem ein Strategiepapier vorstellen, in dem es um konkrete Maßnahmen zur Förderung des Binnenmarkts und zur Bekämpfung von Straftaten geht.
Barrosos Ansatz der kleinen Schritte ist auch den politischen Realitäten des Wahlkalenders geschuldet. In der Verfassungsfrage dürfte sich vor dem Sommer des kommenden Jahres wenig bewegen, weil Franzosen und Niederländer erst im Mai 2007 neu wählen. Bis dahin wird kaum ein Regierungschef dort versuchen, sich mit einem neuen Anlauf zur Verfassung zu profilieren. Als Ergebnis die EU sich voraussichtlich ein weiteres Jahr in einer Art aktivem Schwebezustand befinden - zwar können Reformen angestoßen , Vorbereitungen getroffen werden - der ganz große Wurf aber liegt auf Eis. Eine Weile, findet auch Europa-Experte Peter Becker von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin, kann sich die EU so noch durchmogeln. "Das System funktioniert, aber es entwickelt sich eine latente Krise", sagte er. Mehr zum Thema EU-Verfassung: Debatte kommt wieder in SchwungDienstleistungsrichtlinie: "Mal wieder mit der Wahrheit versuchen""Merkel folgt eine Kohlsche Linie" Eine entscheidende Rolle, der EU in diesem Schwebezustand eine Richtung zu geben, kommt Bundeskanzlerin Angela Merkel zu. Sie hat als künftige EU-Ratsvorsitzender die Aufgabe, konkrete Projekte voranzutreiben und den Boden für einen neuen Anlauf zur Verfassung zu bereiten. Dabei hat die Kanzlerin gute Voraussetzungen für eine erfolgreiche Präsidentschaft geschaffen. Selbst Oppositionspolitiker loben sie dafür, dass sie sich in ihrer kurzen Amtszeit in Europa als Vermittlerin profiliert und die Handlungsspielräume der Deutschen in der EU-Politik erweitert hat."Die jetzige Bundesregierung verfügt dadurch, dass sie sich Russlang gegenüber kritisch positioniert hat, über mehr Spielraum gegenüber den Osteuropäern", sagte etwa der Grüne Steenblock. Die Machtattitüden ihres Vorgängers Gerhard Schröder habe die CDU-Frau schnell abgelegt und sich kleineren Staaten so als glaubwürdige Vermittlerin angeboten. "Merkel folgt eher einer Kohlschen Linie", sagte Steenblock. "Das ist für die Rolle Deutschlands in Europa gar nicht schlecht." Berlin plant offenbar Kaukasus-Initiative Am Donnerstag nun wird Merkel vor dem Bundestag erklären, wofür sie den neu gewonnenen Spielraum nutzen will. Laut Medienberichten wird sie versuchen, das weitere Vorgehen bei der Verfassung zu skizzieren. Zudem wird erwartet, dass sie eine außenpolitische Initiative der EU gegenüber der Kaukasus-Region ankündigen wird. Der Grüne Steenblock erwartet von der Kanzlerin zudem, dass sie sich zur Zukunft der EU-Erweiterung ebenso äußert wie zur Gestaltung eines "europäische Sozialmodell". Merkels Parteifreund Stübgen dringt zudem auf Aussagen zum Abbau von Bürokratie und der Verbesserung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der EU, dem so genannten "Lissabon-Prozess." Linkspartei-Vertreter Dehm fordert eine klare Positionierung der Kanzlerin zur umstrittenen EU-Dienstleistungsrichtlinie. Was immer Merkel am Donnerstag auch sagen wird. Auf eine Gewissheit kann sie sich offenbar verlassen: Die meisten Deutschen halten Europa heute für wichtiger als noch im vergangenen Jahr. Nach wie vor wollen sie die gemeinsame EU-Verfassung. Sie dürften der Regierungschefin genau zu hören. Datenbasis der Forsa-Umfrage: 1000 repräsentativ ausgewählte Bundesbürger; Befragungszeitraum: 4./5. Mai 2006; statistische Fehlertoleranz: +/- 3 Prozentpunkte |