Die Kinder von GazaVon Michael Borgstede 30. Januar 2009, 03:12 Uhr
Aufräumen, neu anfangen: Die Palästinenser versuchen zum Alltag zurückzukehren. Besonders die jungen Menschen werden an den Folgen des Krieges noch lange zu tragen haben
Ein vertrautes Erlebnis: Am ersten Schultag nach den großen Ferien fragt der Lehrer nach den schönsten Urlaubserlebnissen. Dann malen die Kinder Bilder von Surfbooten, erzählen von der tollen Elbfähre oder schreiben eine Geschichte über den Abenteuerspielplatz. Im Gazastreifen fragt der Lehrer am ersten Schultag nach dem Krieg, was seine Schüler in den vergangenen drei Wochen erlebt haben. Und das klingt so: "Ein Flugzeug ist über uns geflogen, als wir vor der Tür gespielt haben. Dann hat es geknallt, und das Bein von meinem Cousin war ganz komisch, mit viel Blut." Der kleine Junge erzählt ein wenig verlegen, doch gut gelaunt.
"Uns ist nichts passiert", sagt ein anderer stolz. "Mama und Papa geht es gut. Nur ein Onkel wurde von einer Rakete getroffen." Er habe abends vor dem Einschlafen gehört, wie die Erwachsenen davon sprachen, dass sein Kopf abgerissen wurde. Der Junge fummelt etwas hilflos an den Nähten seines Mickymaus-Sweatshirts herum. "Aber das habe ich nicht gesehen."
Es ist erschreckend, wie ausdruckslos und scheinbar kalt die Kinder vom Krieg berichten. "Unser Haus wurde von einer Rakete getroffen", sagt ein Mädchen, und es klingt, als erzähle sie von einem Wochenendausflug. "Das obere Stockwerk ist eingestürzt, aber wir waren alle unten. Ich habe unter dem Tisch gelegen und geweint, und dann ist Papa gekommen und hat sich auf mich und meine Schwester gelegt." Ihr Brillengestell ist mit Tesafilm geklebt. Alle paar Minuten fällt ihr das rechte Glas heraus. Mit der Geduld eines Menschen, der schon mit ganz anderen Problemen umgehen musste, liest sie es vom Boden auf.
Es ist eine Form der Gelassenheit - oder ist Abgestumpftheit das bessere Wort? -, der man in Gaza in diesen Tagen überall begegnet. Und Hoffnungslosigkeit macht sich breit. Fragt man die Kinder, was sie denn später werden wollen, antworten drei der Jungen wie aus der Pistole geschossen: "Märtyrer" - was nichts anderes heißt als Selbstmordattentäter.
Ein kleiner, nachdenklicher Schüler möchte gerne Rechtsanwalt werden und die Israelis wegen Kriegsverbrechen anklagen. Sechs nennen als Berufwunsch: "raus aus Gaza". Das scheint die Grundvoraussetzung dafür zu sein, überhaupt über die Ausübung eines ordentlichen Berufs nachdenken zu können.
Mehr als die Hälfte der anderthalb Millionen Einwohner des Gazastreifens sind jünger als 16 Jahre. Der Direktor der unabhängigen palästinensischen Menschenrechtsorganisation al-Mezan Center for Human Rights, Issam Junis, warnt vor den Spätfolgen, die das Erlebte auf die Kinder haben könnte. "Die traumatisierten Kinder sollten weinen und schreien vor Trauer und Schmerz", sagt er. Das wäre angemessen und richtig. "Doch statt dessen reden sie über die Tragödie, als sei es vollkommen normal."
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