"Es fließt zwar weniger Gas aus Russland nach Europa, doch die Lager sind inzwischen gut gefüllt. Das gilt auch für Deutschland. Der Füllstand liegt bei 80 % und damit höher als zu jedem beliebigen Zeitpunkt im vergangenen Jahr. 80 % Füllstand ist für August zudem ungewöhnlich hoch. In den meisten Jahren wurde dieser Wert erst im September oder Oktober erreicht.
Nicht nur in Deutschland sind die Lager gut gefüllt, auch im Rest Europas sind die Länder für den Winter gut gewappnet. In einigen Staaten sind die Speicher voll. Im EU-Durchschnitt liegt der Füllstand bei knapp 80 % (Grafik 1). Panik scheint unter diesen Umständen eigentlich nicht angebracht zu sein.  Der Markt sieht das momentan anders. Der Preis für Erdgas erreichte zuletzt ein neues Allzeithoch. Es gibt kein Halten mehr (Grafik 2). Auf den ersten Blick macht das keinen Sinn. Wenn die Lager gut gefüllt sind und die EU im Durchschnitt auf Plan liegt, wieso preist der Markt Erdgas dann so, als ob es eine Knappheit gäbe?
 Knappheit ist vor allem dann zu erwarten, wenn man mit unterdurchschnittlichem Füllstand in den Winter geht. Das dürfte im kommenden Winter nicht der Fall sein. Zunächst lohnt ein Blick auf die Gründe, weshalb der Füllstand so hoch ist. In Deutschland liegt der Gasverbrauch unter dem Durchschnitt der letzten Jahre. Vor allem Großabnehmer (Unternehmen) sparen seit Mai viel Gas (Grafik 3).
 Im Gegensatz zu Haushalten werden höhere Gaspreise schneller an Großkunden weitergegeben. Da der Preis hoch ist, ist auch der Anreiz zu Einsparungen hoch. Dass sich die Lager schnell füllen, mag auf den ersten Blick positiv sein. Es sagt jedoch aus, dass der Preis schon jetzt zu hoch ist und die Industrie lieber weniger produziert, als die Preise zu zahlen.
Die Marktkräfte wirken. Der Preis bestimmt die Nachfrage maßgeblich mit. Eine gute Nachricht ist das nicht, denn es deutet auf eine Rezession hin. Es erklärt aber zumindest, weshalb sich die Lager schneller füllen als gedacht. Zukünftig werden auch Haushalte mit der Gasumlage deutlich höhere Preise zahlen müssen. Auch das wird den Verbrauch senken. Unter diesen Voraussetzungen muss eigentlich viel schiefgehen, damit Gas im Winter knapp wird. Das Problem: Es geht vieles schief. Gas wird nicht nur in der Industrie und zum Heizen benötigt, sondern auch für die Stromproduktion. In der EU kommen 20 % des Stroms aus Erdgas. Da die Flüsse leer sind, Kohle nicht transportiert werden kann, Frankreich wegen Wartungsarbeiten weniger Atomstrom produziert, die Trockenheit Strom aus Wasserkraft zum raren Gut macht und auch die Reservoirs im Norden Europas schlecht gefüllt sind, ist Strom Mangelware. Der Strompreis (Terminkontrakt für 2023) erreichte in Frankreich pro Mwh mehr als 700 Euro und in Deutschland steuert der Preis auf 600 Euro zu. Der Preis hat sich mehr als verzehnfacht. Die Erhöhung des Gaspreises ist da im Vergleich fast moderat. Es kann daher sein, dass mehr Gas für die Stromerzeugung benötigt wird. Man kann den Lagerbestand nicht mit dem sonst üblichen Verbrauch im Winter vergleichen. Die Nachfrage könnte sehr viel höher sein, weil mehr Gas für die Stromproduktion eingesetzt werden muss. Die Aussagekraft des Füllstands ist damit nur bedingt gegeben. Ohne eine Beruhigung des gesamten Strommarktes wird auch der Erdgaspreis weiterhin Panik signalisieren."
Clemens Schmale
Quelle: Energiekrise: Erdgaslager voll, trotzdem herrscht Panik. Warum? | GodmodeTrader
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