FAZ Sonntagszeitung
"Es gibt ein Bedürfnis nach Großfamilie"
Familienministerin Ursula von der Leyen (CDU) über Elternfeindlichkeit, Risikobereitschaft, Mehrgenerationenhäuser und das Tischgebet
FRAGE: Wir sind mit dem Taxi zu Ihnen gekommen. Der aus der Türkei stammende Fahrer sagte, die Deutschen seien zu egoistisch, um Kinder zu kriegen.
ANTWORT: Die jungen Menschen, die zögern, Kinder zu kriegen, sind ja nicht automatisch eigensinnige, wohlhabende Doppelverdiener, die um ihren Lebensstandard fürchten. Vielmehr absolvieren sie ihre Ausbildung, versuchen in wirtschaftlich schweren Zeiten beruflich Fuß zu fassen und finden sich dann mit ihrem Kinderwunsch in einem Land wieder, das alles andere als elternfreundlich ist.
FRAGE: Das sagt die Mutter von sieben Kindern?
ANTWORT: Ja. Wir haben zu lange den jungen Menschen gesagt, was mit Kindern nicht geht. Wir haben über Rabenmütter und Heimchen am Herd gestritten, anstatt der jungen Familie mit Einkommen, einer guten Infrastruktur von Kindertagesstätten und Schulen und einer familienbewußten Wirtschaft zu ermöglichen, ein Kind und auch mehrere Kinder zu erziehen. In den vergangenen dreißig Jahren ist das Zögern, ein Kind in die Welt zu setzen, immer größer geworden. Das hat auch damit zu tun, daß Deutschland zu einer Insel der Langsamkeit geworden ist mit unendlich langen Ausbildungszeiten. In Deutschland sind junge Menschen im Durchschnitt 29 Jahre alt, wenn sie ihre Ausbildung beendet haben und über das Kinderkriegen nachdenken. In Frankreich und England sind sie mit 23 mit dem Studium fertig. In diesem Alter ist man noch viel risikofreudiger, auch naiver. Da ist man eher bereit, Kinder in die Welt zu setzen.
FRAGE: Hängt das Überleben unserer Gesellschaft vom Überleben der bürgerlichen Familie ab?
ANTWORT: Es hängt davon ab, ob es weiterhin Familien gibt. Insofern ist das Gründen von Familien ein tief wertkonservativer Vorgang. Der Rahmen muß aber ein moderner sein, damit Familie in einer globalisierten Arbeitswelt lebbar ist.
FRAGE: Ganz gleich, ob Patchworkfamilie oder das traditionelle Vater-Mutter-Kinder-Modell?
ANTWORT: Patchworkfamilien genießen genauso meine Anerkennung wie andere Formen des familiären Zusammenlebens, weil sie alle Verantwortung für Kinder übernehmen. Insofern sind die Diskussionen über dieses oder jenes Familienmodell müßig. Mein Lieblingssprichwort ist: Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen. Erst seit fünfzig oder sechzig Jahren haben wir die Situation geschaffen, daß eine Person, nämlich die Mutter, 24 Stunden an sieben Tagen in der Woche allein für ein Kind zuständig sein soll. Zuvor hatte Familie seit Jahrhunderten die Ressourcen der Großfamilie genutzt, weil sie alle bereicherten. Es war typischerweise der Fall, daß die Eltern hart arbeiten mußten, um den Lebensunterhalt der Kinder und der Alten zu verdienen. Und dennoch versuchten, möglichst viel Zeit mit ihren Kindern verbringen.
FRAGE: Wenn das Familiengründen konservativ ist, ist dann die CDU noch eine konservative Partei?
ANTWORT: Ich wünsche, daß wir wertkonservativ, aber nicht strukturkonservativ sind. Ich beobachte bei den Älteren in der Union ein wachsendes Verständnis für ein junges Familienbild - spätestens, wenn sie an ihren eigenen Kindern sehen, daß Beruf und Kinder nur mit großer Flexibilität zu vereinbaren sind.
FRAGE: Familienleben besteht auch aus Verzicht, Kompromissen, Opferbereitschaft. Geht das Übungsfeld Familie verloren?
ANTWORT: Ja, und das ist eine dramatische Entwicklung. Auch die Geschwistererfahrung schwindet, denn wir verlieren die Mehrkindfamilie. Familie ist der Ort, wo wir Werte wie Zuverlässigkeit, bedingungslose Liebe, Vertrauen, Respekt oder Mitgefühl üben. Auch die Auseinandersetzungen mit den Geschwistern - Streit ebenso wie Streitschlichtung - sind elementare Erfahrungen, die nicht mehr nachgeholt werden können.
FRAGE: Glauben Sie im Ernst, Sie könnten das Sinken der Geburtenrate aufhalten, gar umkehren, und eines Tages haben wir wieder Großfamilien?
ANTWORT: Den Geburtenrückgang zu verlangsamen wäre schon ein großer Fortschritt, ihn aufzuhalten ein riesiger. Die Großfamilie werden wir nicht wieder zurückbekommen. Daher müssen wir Räume schaffen, in denen die Prinzipien der Großfamilie gelten, auch ohne daß verwandtschaftliche Beziehungen bestehen. Einer meiner Ansätze sind die Mehrgenerationenhäuser, die den Kreislauf des Gebens und Nehmens zwischen den Generationen ermöglichen. Die große Resonanz zeigt mir, daß ein Bedürfnis nach Großfamilie noch besteht.
FRAGE: Sie wollen mit den beiden Kirchen ein "Bündnis für Erziehung" schließen. Die religiöse Bindung nimmt aber immer mehr ab.
ANTWORT: Zahlen, etwa über die Kirchenzugehörigkeit, mögen das nahelegen. Aber in einer Welt, die unsicherer und unbeherrschbarer wird, werden zwei Dinge wichtiger, die man persönlich beeinflussen kann: die Familie und die Religion. So selbstverständlich, wie wir den Kindern die Muttersprache mitgeben, müssen wir ihnen Religion mitgeben.
FRAGE: Sollten Eltern mit Kindern beten?
ANTWORT: Ja. Religion vermittelt Rituale, die praktische Lebenshilfen sind, bei Geburt und Tod, aber auch im Alltag. Wir beten zu Hause immer ein Tischgebet. So warten alle, bis der letzte sitzt, und das erste Kind springt nicht auf, wenn ich gerade anfange zu essen. Darüber hinaus gibt es uns einen kurzen Moment des Innehaltens, daß man den Blick für das Wesentliche im Alltagstrubel nicht verliert.
FRAGE: Sehen Sie in der Pflege religiöser Rituale eine Selbstbehauptung der christlichen Gesellschaft etwa gegenüber der muslimischen?
ANTWORT: Es geht weniger um die Abgrenzung zu anderen als vielmehr um das Finden und Festigen der eigenen Identität, von der ich mir wünsche, daß die Kinder in sie hineinwachsen. Und es ist der Wunsch, die Rituale als gut erfahrene Traditionen weiterzugeben. FRAGE:
In vielen Kindergärten werden christliche Feste nicht mehr religiös begangen, weil man kirchenferne Familien oder andersgläubige Kinder nicht brüskieren will.
ANTWORT: Das ist grundfalsch. Wissens- und Wertevermittlung gehören zusammen. In den Vereinigten Staaten habe ich es ganz anders erlebt. Da wurden die christlichen Feste gefeiert und erklärt. Und es wurden auch viele andere Feste, wie das jüdische Chanukka, begangen.
FRAGE: Klingt schön. Aber müssen wir in Deutschland nicht erst einmal eine christliche Bastion sein, um dann tolerant sein zu können?
ANTWORT: Natürlich muß ein Kind zuerst die Grundlagen seiner eigenen Religion kennenlernen - ob es Christ ist oder Muslim. Die anderen Religionen kennenzulernen ist dann ein wichtiger Bildungsprozeß. Wir lernen ja auch verschiedene Sprachen - trotzdem steht am Anfang die Muttersprache, und es wird im Kindergarten Deutsch gesprochen.
FRAGE: Der Islam ist familienstark. Die muslimischen Migranten bekommen viele Kinder. In einigen Jahren werden die Migranten in den Großstädten die Mehrheit bilden.
ANTWORT: Die Frage, ob viele Kinder geboren werden, hängt nicht am Islam oder am Christentum. Viele Kinder hat oft die erste Generation der Einwanderer, die unmittelbar aus Kulturen kommen, in denen viele Kinder geboren werden. In der zweiten oder dritten Generation passen sie sich an die niedrige Geburtenrate an. Die jeweilige Religion ist also nicht primär der Schlüssel, ob Kinder geboren werden, sondern die Frage, wie die Gesellschaft Kindern gegenüber eingestellt ist. Religion und Religiosität helfen aber, Vertrauen in die Zukunft zu haben. Das christliche Grundvertrauen macht es leichter, ein Kind in die Welt zu setzen.
FRAGE: Bei der Überwindung der sinkenden Geburtenrate und der Nutzung der Kompetenz qualifizierter Frauen erfüllen Sie das Soll im Übermaß. Werden Sie deshalb als Superfrau angefeindet?
ANTWORT: Ich will kein Vorbild sein. Aber ich will Vorkämpferin für die Themen sein, von denen ich überzeugt bin.
FRAGE: Haben Sie die Anfeindungen der vergangenen Monate verletzt?
ANTWORT: Am Anfang ja. Aber Verletzungen machen auch stärker. Irgendwann habe ich verstanden, daß ich etwas in das Land hineintragen kann, auch aus meiner Auslandserfahrung, was jungen Menschen hilft, sich für Kinder zu entscheiden. Ich bin überzeugt, daß wir noch richtige Weichen stellen können. Wenn das nicht gelingt, dann werden unsere Töchter und Söhne in Länder auswandern, in denen es sich mit Kindern leichter leben läßt. Viele junge Menschen gehen heute schon weg, etwa deutsche Ärztinnen und Ärzte, die in Skandinavien, Holland oder England arbeiten. Das muß uns doch umtreiben. Unser Handeln heute entscheidet darüber, wie wir hier in Zukunft zusammenleben werden.
Die Fragen stellten Eckart Lohse und Markus Wehner. Text: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 19.03.2006, Nr. 11 / Seite 6
|