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"Broker unter Verdacht von Gary Matsumoto
Manipulierte Kurse könnten Lehman den Todesstoß versetzt haben. Darauf deuten Daten der Wall Street hin. Wie falsche Gerüchte und ungedeckte Leerverkäufe das gewaltige Geldhaus ins Wanken gebracht haben könnten.
Bloomberg NEW YORK. Es waren seltsame Zufälle. Am Montag, den 30. Juni kam an der Wall Street das Gerücht auf, die britische Barclays Bank stehe kurz davor, die Investmentbank Lehman Brothers für 25 Prozent unter dem aktuellen Aktienkurs zu kaufen. Ein Gerücht, das sich im Nachhinein als völlig aus der Luft gegriffen erwies. Doch bereits vom vorhergegangenen Donnerstag auf Freitag den 27. Juni kam eine auffällig hohe Zahl von Transaktionen mit Lehman-Aktien nicht mehr zustande. Die Zahl der Aktien, die zwar verkauft, aber nicht geliefert wurden, schnellte von 30 690 Stück am Tag zuvor auf 705 103 Stück in die Höhe, zeigen Berechnungen auf Grundlage von Daten der US-Börsenaufsicht.
Am Tag des Gerüchts selbst kletterte die Zahl der Verkaufsgeschäfte, die nicht ausgeführt wurden, auf knapp 815 000 - mehr als das Vierfache des bisherigen Tagesmittels im Jahr 2008. Der Lehmankurs brach elf Prozent ein, zum Handelsschluss summierte sich das Minus für das Kalenderjahr auf 70 Prozent. Das ging munter so fort: An den ersten sechs Tagen nach den Barclays-Gerüchten lag die Zahl der Nichtlieferungen im Schnitt bei 1,4 Millionen täglich.
Eineinhalb Monate später, am 15. September 2008, meldete die 158 Jahre alte New Yorker Investmentbank Lehman Brothers unter einer Schuldenlast von 613 Mrd. Dollar Insolvenz an. Die Handelsdaten aus den Wochen zuvor wecken den Verdacht, dass die Fehlspekulationen der Bank und die lange Rivalität zwischen Lehmanchef Richard Fuld und Finanzminister Paulson nicht die alleinigen Ursachen für der Katastrophe waren. Vieles deutet darauf hin, dass hinter der Lehman-Pleite ein schmutziges Geheimnis der Wall Street steckt. Am Ende waren es weder eine staatliche Entscheidung noch der besonders schlechte Zustand der Investmentbank, die Lehman den Todesstoß versetzten, sondern Spekulanten. Und: Offenbar waren die Handelsgeschäfte, die das Aus der Bank beschleunigten, illegal.
Die zentrale Rolle spielte dabei der Leerverkauf ("short selling") von Aktien. Wer eine Aktie für zu hoch bewertet hält, verkauft sie auf Termin, obwohl er sie gar nicht besitzt. Er hofft, dass die Kurse bis zum Lieferzeitpunkt billiger sind, dann kann er sich kurz zuvor unter dem Verkaufspreis eindecken. Die Kursdifferenz ist sein Gewinn. Leerverkäufe spielen Baisse-Spekulanten in die Hände, die durch eine Reihe aufeinander folgender Verkäufe die Preise in den Keller treiben können. Ein allzu ausuferndes "short selling" wird in der Regel dadurch verhindert, dass sich der Investor per Gesetz die Aktien zum Vertragszeitpunkt leihen muss, um das Geschäft zu decken und die geliehenen Aktien erst zum Erfüllungstermin zurück gibt.
Bei den Transaktionen, die Lehman nach Ansicht von Branchenkennern endgültig das Genick brachen, handelte es sich jedoch um ungedeckte Leerverkäufe. In dieser verschärften Variante der Spekulation wird eine Aktie verkauft, ohne dass der Händler sie geliehen hat - also ohne eigenen Kapitaleinsatz. Solche ungedeckten Leerverkäufe kamen offenbar dadurch zustande, dass die Händler Aktien im normalen Tageshandel verkauften, sich aber absichtlich mit der Lieferung viele Tage Zeit ließen, bis sie sich weit günstiger am Markt mit den verkauften Aktien eindecken konnten.
Der Hinweis darauf stammt aus einem auffälligen Anstieg von sogenannten Nichtlieferungen von Aktien, zeitnah zu Gerüchten, die wiederum den Aktienkurs von Lehman zum Absturz brachten. "Nichtlieferung" heißt, der Käufer erhält bei einem Aktien-Geschäft die Wertpapiere nicht spätestens drei Tage nach dem Kauf - was natürlich dann öfter vorkommt, wenn besonders viele Leerverkäufe stattgefunden haben. Diese Praxis erreichte offenbar am 17. September, zwei Tage nach dem Insolvenzantrag von Lehman Brothers, ihren Höhepunkt. An diesem Tag kletterte die Zahl der Nichtlieferungen auf 49,7 Millionen - oder 23 Prozent des Handelsvolumens der Aktie. Am folgenden Tag verhängte die US-Börsenaufsicht Securities and Exchange Commission (SEC) für zahlreiche Finanzaktien ein generelles Leerverkaufs-Verbot.
Eine Korrelation zwischen geplatzten Lieferungen und Kursrückgang beweise zwar nicht zweifelsfrei, dass ungedeckte Leerverkäufe zu den niedrigeren Kursen führten, erklärt Susanne Trimbath, Expertin für die Abwicklung von Handelsgeschäften bei STP Advisory Services aus Omaha im Bundesstaat Nebraska. Dennoch sei sie ein "guter erster Indikator für eine statistische Beziehung zwischen zwei Variablen". Auffällig sind die Nichtlieferungen übrigens nicht nur bei Lehman. Sie häuften sich auch vor dem Verkauf von Bear Stearns. Generell ist ihre Zahl mit Beginn der Krise deutlich gestiegen.
Nichtlieferungen bei Aktien, die leicht zu leihen sind - wie etwa bei Lehman Brothers - seien ein Warnsignal, bestätigt auch Richard H. Baker, Vorstandschef der in Washington ansässigen Managed Funds Association, dem wichtigsten Verband der Hedge-Fonds-Branche. Irvin Pollack, ein ehemaliger Leiter der SEC-Enforcement-Abteilung sagt: "Wenn Händler falsche Gerüchte verbreiten und dann über Leerverkäufe daraus ihren Profit ziehen, dann ist das schlicht Betrug.
Die Vorschriften, was im Falle einer Nichtlieferung zu tun ist, öffnen der Manipulation Tür und Tor. Die SEC sieht vor, dass Broker, die Aktien 13 Tage nach dem Kauf noch nicht erhalten haben, vom Vertreter des Verkäufers verlangen können, dass dieser die Aktien am Markt kauft und sie im Namen des Kunden andient. Allerdings hat eine Untersuchung aus dem Jahr 1986 ergeben, dass die Regelungen zumindest hinsichtlich der an der Nasdaq gehandelten Wertpapiere wirkungslos sind. Ihre Ausgestaltung erlaube den Brokern, die Lieferung "unbegrenzt" hinauszuzögern, so die Studie. Zudem muss einem Marktteilnehmer nachgewiesen werden, dass er den ungedeckten Leerverkauf vorgenommen hat, um mehr Profit zu erzielen oder den Aktienkurs zu manipulieren. Nur dann kann das Justizministerium Anklage erheben, nur dann muss er mit einer Strafe rechnen.
Obwohl die Aufsicht SEC von Januar 2007 bis Juni 2008 rund 5 000 Beschwerden zu ungedeckten Leerverkäufen erhielt, führte keine davon zu Zwangsmaßnahmen. Einen entsprechenden Bericht hat ihr Generalinspekteur David Kotz kürzlich vorgelegt.
Pollack versteht das nicht: "Wir haben es nicht mit ein paar vagen Hinweisen zu tun. Die gesammelten Belege stinken geradezu zum Himmel", sagt er. "Verlangen Sie Einsicht in den E-Mail-Verkehr! Finden Sie heraus, wer die falschen Gerüchte gestreut hat und gleichzeitig die Aktie leerverkauft hat - und schon haben Sie die Betrüger."
"Ich glaube, ungedeckte Leerverkäufe und unbegründete Gerüchte haben Lehman ganz substanziell geschadet", sagte Ex-Lehman-Chef Richard Fuld dem US-Kongress. Es scheint, hatte recht."
http://www.handelsblatt.com/finanzen/...broker-unter-verdacht;2223968 |