Reflexionen über das Erfolgsgeheimnis unseres Landes1. August-Ansprache von Bundesrat Hans-Rudolf Merz Gedanken zum Nationalfeiertag 2005
Liebe Landsleute
Zu Recht sind wir stolz auf unser schönes und wohlhabendes Land. Am Nationalfeiertag besinnen wir uns gerne auf die Gründe für unseren Wohlstand. Wir rufen unsere bekannten Trümpfe in Erinnerung. Ich denke an die Chancengleichheit, die leistungsorientierte Wirtschaft, die gute Infrastruktur, den schonungsvollen Umgang mit der Umwelt, die niedere Steuerbelastung, die Umsetzung der Schuldenbremse, das funktionierende Sozialnetz und den flexiblen Arbeitsmarkt. Wenn wir zu unseren Trümpfen Sorge tragen, haben wir schon viel für das Bewahren unseres Wohlstands getan. Dies gilt beispielsweise in nächster Zeit bei einer Volksabstimmung, nämlich: • Mit der Ausdehnung der Personenfreizügigkeit wollen wir uns den Zugang zu Wachstumsmärkten sichern. Der Erfolg unseres Landes hängt zweifellos von diesen sogenannt harten Fakten ab. Warum besteht aber dennoch überall der Eindruck, unser Land sei blockiert? Weshalb haben wir das Gefühl, es sei uns Förderliches und Verbindendes abhanden gekommen? - Die Antwort liegt im sogenannt weichen Bereich, bei gemeinsamen Werten und in Fragen des Umgangs miteinander. Die Trümpfe sind zwar notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für das Gedeihen unseres Landes! Es braucht noch etwas anderes. Unser Land ist gross geworden dank Werten wie Arbeitsfrieden, Freiwilligenarbeit, Verhandlungskultur, Meinungsvielfalt, handlungsfähigen Behörden, Respekt und Patriotismus. Unsere Trümpfe würden ohne diese verbindenden Werte ihre Kraft verlieren und mit der Zeit nicht mehr stechen. Zwar sind weiterhin die Freiwilligenarbeit - und das Milizprinzip - verbreitet. Auch der Arbeitsfrieden ist anerkannt. Die Sozialpartner verhandeln ihre Probleme am Tisch und nicht auf der Strasse, auch wenn es Heisssporne gibt, die Streiks statt Arbeitsfrieden propagieren und Kurzsichtige, die mit ihrer unternehmerischen Verantwortung nicht umzugehen wissen. Doch andere Werte haben an Inhalt verloren. Die Verhandlungskultur wird von einigen geradezu verteufelt. Das ist mit ein Grund für zahlreiche Blockaden. Ich plädiere deshalb dafür, dass jede politische Partei ausgehend von klaren Positionen zum Kompromiss bereit sein muss. Das Vorangehen mit Reformen ist wichtiger als das Untergehen mit Parteislogans. Damit rede ich nicht dem Schliessen von faulen Kompromissen das Wort. Weiter beobachte ich, dass Meinungsvielfalt in den Parteien zusehends verpönt ist. Abweichler kommen an die Kandare. Die Medien feiern oft ausgerechnet jene Parteien, welche ihre Politiker zu stromlinienförmigen Wesen disziplinieren. Sie vergessen, dass sich der Geist der Innovation erst bei einer hohen Streitkultur voll entfaltet. Denken wir an die Schaffung des modernen Bundesstaates. Diese geschah in einem äusserst zerstrittenen Umfeld und dank kreativen Köpfen. Wir gelten als Land mit grosser Stabilität. Gleichzeitig sind wir aber eine sehr vielfältige und widersprüchliche Gesellschaft mit vielen zentrifugalen Kräften. Die direkte Demokratie erfordert die Einbindung aller referendumsfähigen Parteien in die Regierungen. Von handlungsfähigen Behörden wird mehrheitsfähige Arbeit erwartet. Das Säen von Staatsverdrossenheit, das Spiel mit Halbwahrheiten, die obsessive Suche nach der öffentlichen Kritik und die Diffamierung bringen unser Land nicht vom Fleck. - Nicht der Spaltpilz und nicht die Axt machen die Schweiz aus, sondern es ist der Handschlag für das gemeinsame Ziel. Ist es blosser Zufall, dass Regierungen, Parlamente und Gerichte wie auch Wirtschaftsverbände oder Gewerkschaften in letzter Zeit zu Versagern abgestempelt werden? Ich befürchte, dass die Verunglimpfungen darauf abzielen, die bei uns tief verwurzelte Kultur des Ausgleichs, der Solidarität, des Kompromisses sowie der Toleranz zu brechen. Die spürbare Verunsicherung sowie die politische Blockade sind ernste Zeichen, dass wir im Begriff sind, etwas zu verlieren. Die Devise lautet bei vielen nicht mehr ‚Freiheit im Staat’, sondern ‚Freiheit statt Staat’. Dagegen wehre ich mich. Wir dürfen unseren Staat nicht verteufeln; aber wir müssen ihn kontrollieren! Andersdenkenden, insbesondere unseren Minderheiten, müssen wir sodann mit Respekt begegnen. Der Föderalismus erlaubt den Minderheiten die Gestaltung ihres eigenen Umfeldes und damit die Pflege ihrer Identität. Friedliches, respektvolles Zusammenleben ist nie gesichert. Es bedarf einer kulturellen Leistung, die immer wieder zu erneuern ist. Gerade heute zähle ich ferner den Patriotismus auch zu den verbindenden Werten. Patriot ist, wer aus Liebe zum Land und seinen Leuten guten Willens und nach Kräften an der Gestaltung der Gemeinsamkeiten mitarbeitet - wohlgemerkt unabhängig der politischen Couleur. Keine Gruppierung darf den Patriotismus für sich alleine pachten. Die verbindenden Werte machen zusammen mit den harten Trümpfen letztlich die Willensnation Schweiz aus. Für deren Zukunft braucht es Reformwillen, Durchstehvermögen, Mut zur Unpopularität und Knochenarbeit. Diese Anstrengungen sind der Preis für den künftigen Wohlstand. Ich komme zum Schluss: Arbeitsfrieden, Freiwilligenarbeit, Verhandlungskultur, Meinungsvielfalt, handlungsfähige Behörden, Respekt und Patriotismus sind nicht Wischiwaschi, sondern Kitt fürs Land. Kitt für eine intelligente, wachsende, ausgleichende und offene Schweiz und einen modernen Staat. Wir wollen ein Land, auf das wir alle weiterhin stolz sind. Ich wünsche Ihnen allen eine schöne Bundesfeier. 01 Aug 2005 |