Gut, dass sein Ende naht
Jedes Jahr müssen über hunderttausend junge Deutsche ihr Gewissen entdecken. Sie wollen ihren Dienst lieber in einem Krankenhaus als in einem Panzer ableisten, auch lieber zu Hause als in der Kaserne leben. Weil dies allein aber kein triftiger Verweigerungsgrund ist, ergreift die jungen Männer angesichts des Musterungsbescheids eine große Ehrfurcht vor dem Wert des menschlichen Lebens, wie es das Gesetz verlangt. Das teilen sie den Kreiswehrersatzämtern mit, um alsbald zum Sozialdienst einzurücken.
Jetzt sprechen alle – die Familienministerin und die Sozialverbände – vom Ende dieser Prozedur im Jahre 2008. Der Aufschrei ist überraschend gedämpft. Es fällt in der Tat schwer, zu entscheiden, was schlimmer ist: die staatliche Gewissensprüfung zu Zeiten, da das Militär auf Wehrpflichtige nicht verzichten wollte – oder die Heuchelei heute, wo zu viele Gezogene bei der Bundeswehr nur stören würden. Natürlich gibt es gute Gründe, Zivildienst zu leisten – nicht aber für ein Bekenntnis zu einem Fundamental-Pazifismus, der außerhalb wehrpflichtiger Jahrgänge ausgestorben ist. Der Expertenkommission, welche die Abschaffung des Zivildienstes empfiehlt, muss man allein um der Liebe zur Wahrheit willen gratulieren.
Denn die gesamte Debatte um Wehrpflicht und Zivildienst hat eine Kultur der Verlogenheit hervorgebracht. Sie beginnt mit der Sorge um die deutsche Sicherheit und Demokratie, die ohne Wehrpflicht angeblich auch heute, im Jahr 2004, nicht zu gewährleisten sei. Sie setzt sich fort in der diskreten Einladung an junge Männer, es doch vorübergehend mit dem Pazifismus zu versuchen, weil man sie in Wahrheit bei einer hoch professionellen Einsatzarmee nicht mehr braucht. Und sie endet mit der Legende von der „Arbeitsmarktneutralität“ des Zivildienstes. Offiziell darf nämlich kein Zivi einen regulären Arbeitsplatz besetzen. Wenn er aber nur purer Luxus ist, hätte der gesamte Zivildienst schon immer ohne Schaden für die Allgemeinheit abgeschafft werden können.
Auch wenn einige Sozialträger doch jammern: Natürlich geht es ohne Zivildienstleistende. Zwangsarbeit ist nicht sonderlich effektiv, das belegt so manche Studie über die Sklavenarbeit in der Antike oder in den amerikanischen Südstaaten, und daran hat sich wenig geändert, wie eine aktuelle Klage des Malteser Hilfsdienstes bezeugt. Dort fahren die Zivis so viele Krankenwagen zu Schrott, dass sich der Einsatz regulärer Arbeitskräfte schon wegen der Reparaturkosten lohnen würde.
In Bremen ist man weiter. Dort kommt der größte Hilfsdienst für Körperbehinderte seit acht Jahren ohne Zivis aus. Teilzeitkräfte erledigen die Arbeit. Frage an die Geschäftsführerin: Könnte man nach diesem Vorbild alle 95000 deutschen Zivildienstleistenden ersetzen? Die Antwort: „Ja.“
Und da zurzeit „Innovation“ en vogue ist, sollte man nach Stuttgart schauen. Dort hat die Diakonie ein neues Berufsbild entwickelt: den Sozialhelfer. Vor allem ältere Arbeitslose werden als Hilfskräfte für Alte und Behinderte angelernt. Helfen, statt Hilfe zu beziehen, soziale Leistungen erbringen, statt Sozialleistungen zu kassieren – wäre das nicht ein Modell für das innovative Deutschland? Aber ja, sagt der Vize-Geschäftsführer: „Eine halbe Million Menschen könnten im sozialen Bereich arbeiten und müssten nicht mehr durch Arbeitslosen- oder Sozialhilfe alimentiert werden.“ Und warum gibt es das nicht schon? Weil es den Zivildienst gibt – bis 2008.
Ein soziales Jahr – freiwillig
Und danach? Wie steht es um die charakterbildende Erfahrung des Helfens und Gebrauchtwerdens? Von der Fähigkeit zur sozialen Empathie profitiert doch die gesamte Gesellschaft. Vor einigen Jahren hörte man das Argument in einer anderen Form. Nur beim Bund, in der „Schule der Nation“, würden Werte wie Einsatzfreude und Disziplin vermittelt, hieß es. Willy Brandt hat darauf eine treffende Antwort gegeben: „Die Schule der Nation ist die Schule.“
Das gilt nach wie vor. Es kann nicht schaden, eine Zeit lang Rollstühle zu schieben oder Essen auf Rädern zu servieren. Längst werden in amerikanischen und englischen Schulen die Kids zur Sozialarbeit angehalten. Das freiwillige soziale Jahr ist eine wunderbare Einrichtung, es verdient mehr Förderung und Werbung. Personalchefs sollten Wert auf solche Praktika legen; dann paart sich Eigeninteresse mit Sozialsinn. Ein staatlich verhängter Zwang aber ist eines freien Landes unwürdig.
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