Den Steigweg in muss man sich als Idyll vorstellen, mit Ursprüngen in den 1960er- und 1970er- Jahren. Eine schmale Straße am Zentrumsrand mit schlicht verputzten Einfamilienhäusern, in deren Vorgärten die Bewohner ihre ganze Liebe gesteckt haben. Geranien sprießen aus Blumenkübeln, Bänkchen stehen in Nachbarschaft zu akkurat gestutzten Hecken, an mancher Haustür hängt ein aus Holz geflochtenes Herz, das signalisiert: „Gäste sind herzlich willkommen.“ Bei Ingeborg Roth hängt kein solches Herz. Vielleicht hat sie nie eines gehabt, vielleicht hat sie es in diesen Tagen auch abgehängt. Ingeborg Roth lebt seit 27 Jahren am Steigweg, sie steht im Türrahmen und sagt einen Satz, den sie noch mehrfach wiederholen wird: „Ich bin nur froh, dass meine Kinder schon aus dem Haus sind.“
Froh sieht sie bei diesem Satz nicht aus, allenfalls etwas erleichtert: Dass ihre Kinder nicht in einer Straße aufwachsen, die von Hunderten Flüchtlingen passiert wird. Jeden Tag. Auf ihrem Weg von der Landeserstaufnahmestelle (LEA) in der ehemaligen Kaserne am Rand ins Stadtzentrum und zurück. „Ein ganzes Dorf zieht hier vorbei“, sagt Roth. Die einen würden es still und stoisch tun, andere laut und maßlos. Grölend und betrunken, bis tief in die Nacht. Die Anwohner klagen über Erbrochenes, das sie am Morgen von der Mauer wischen müssen. Über Fäkalien im Vorgarten, auch die muss jemand entsorgen. Über einen nicht abreißenden Verkehr einer fremden Kultur ausgerechnet in diesem bürgerlichen Kleinod. Mag der Steigweg besonders belastet sein, mag es nur eine Minderheit der Flüchtlinge sein, die keine Grenzen kennt, die Folgen dieser Völkerwanderung auf engstem Raum sind für Ingeborg Roth dennoch klar: „Die Stimmung kippt.“ Seit Oktober vergangenes Jahr ist die LEA in Betrieb, auf einer Bürgerversammlung gab es damals eine breite Zustimmung, die Rede war gar von einer „überragenden Willkommenskultur in Meßstetten“. Eine naive Sicht, mit einem entscheidenden Fehler: Damals war noch kein einziger Flüchtling vor Ort. Nun sind sie da. Verbunden mit der kompletten Überforderung einer Kleinstadt. Die Politik hatte Meßstetten damals als Leuchtturmprojekt deutscher Flüchtlingspolitik ausgeflaggt. Setzt sich die Entwicklung fort, könnte Meßstetten für das Scheitern eben dieser stehen. Das weiß auch Bürgermeister Lothar Mennig. In seinem Besprechungszimmer steht ein überdimensionales Glücksschwein aus Porzellan, das auf Fütterung mit Kleingeld wartet. Das Rathaus besticht durch viel Glas und Holz. Transparenz und Moderne werden jedoch konterkariert durch einen blauen Toilettencontainer für Flüchtlinge hinterm Rathaus. „Die Probleme haben zugenommen“, sagt Mennig ohne Umschweife und zählt auf: Lärm, Abfall, Alkoholmissbrauch, Notdurft im öffentlichen Raum, deutlich mehr Ladendiebstähle Aber: Noch kein einziger Einbruch sei gemeldet worden, kein einziger gewaltsamer Übergriff. Mennig, ein sympathischer Mann, der seine Sätze gern mit einem Lächeln abschließt, sieht denn auch weniger die Delikte als Problem, denn die Wahrnehmung der Bevölkerung: „Das subjektive Sicherheitsgefühl der Bürger hat schwer gelitten.“ Ein Experte sprach im Gemeinderat von „Angsträumen“ bei den Bewohnern. Bürgermeister Mennig meint zu wissen, weshalb diese Ängste Raum finden: „Die Überbelegung der LEA ist das größte Problem.“ Stadt und Land haben einen Vertrag geschlossen, der eine Belegung von 500 Flüchtlingen vorsieht, maximal 1000. Zuletzt waren es aber bis zu 1800 – die in der Kernstadt Meßstettens auf gerade einmal 5300 Einwohner treffen. „Und gewöhnlich kommen die meisten Flüchtlinge erst kurz bevor der Winter einsetzt, im Oktober“, sagt Mennig. Diesen Satz schließt er ohne Lächeln ab. Genauso wie seine Schilderungen über die heißen Sommertage in Meßstetten. Vom LEA-Gelände gehen die Flüchtlinge über einen Waldpfad, treffen auf den Steigweg und gelangen schließlich an ihr Ziel, einen Discounter. Wo sie sich mit Essen und Trinken eindecken. Und sich dann auf einem Grünstreifen niederlassen. „Da wird richtig campiert“, sagt Mennig. Manchmal 40, 50 Flüchtlinge, die an der Hauptstraße speisen, Alkohol zu sich nehmen und bisweilen Feuer machen, das ein vom Land eingesetzter Streetworker löschen muss. Dazu kommen Aberdutzende Dunkelhäutige, die mit Plastiktüten beladen durch das schmucklose, aber saubere Städtchen laufen. Ein bizarres Bild, das die Einwohner verschrecken muss, das ihnen, wenn bis dato auch unbegründet, Angst machen muss. „Ich gehe jetzt ganz früh einkaufen, wenn die Flüchtlinge noch nicht unterwegs sind“, sagt Ingeborg Roth. Ihre Walkingtouren über die Felder hat sie eingestellt, genauso wie abendliche Besuche einer Gaststätte. „Das traue ich mich einfach nicht.“ Andere Meßstetter berichten, der Wanderweg zum alten Wasserturm würde von den Einheimischen nun gänzlich gemieden. Eine Pferdekoppel am Feldweg erhält derzeit einen hohen Zaun, um die Tiere vor Müll zu bewahren. Und ein Bewohner am Steigweg schützt sein Haus jetzt mit einer Alarmanlage. Die überbordende Präsenz der Flüchtlinge greift somit tief in das Sozialverhalten der Bürger. Aber ist die Stimmung wirklich schon kaputt, ist das Mitgefühl mit den Kriegsflüchtlingen verschwunden? Ingeborg Roth schüttelt den Kopf. „Neulich ist ein Flüchtling an Krücken am Haus vorbeigehumpelt“, der Anblick tue weh. Genauso habe sie Mitgefühl und Verständnis für Familien mit zwei, drei Kindern, die ihre Heimat gewiss nicht freiwillig aufgegeben hätten. Verärgert reagiert sie dagegen auf die vielen jungen Männer, „die tragen schicke Markenklamotten und haben große Smartphones …“ Leid und Not könne sie da nicht erkennen. Es gibt auch eine andere Wahrnehmung. Einige Hundert Meter von der LEA-Kaserne entfernt liegt die frühere Offiziersmesse, jetzt das Begegnungszentrum für die Flüchtlinge. Steht der Steigweg für die brennenden Probleme, ist das Begegnungszentrum Sinnbild für das aufgeschlossene Meßstetten. Seit Eröffnung der LEA engagieren sich hier mehr als 90 Ehrenamtliche, und trotz aller Zuspitzung ist kaum einer seither abgesprungen. Auch Oscar Beutler, der frühere evangelische Pfarrer Meßstettens, engagiert sich, im Internetcafé. Ein junger Syrer kommt in den Raum, setzt sich sofort an einen PC. Beutler, 67 Jahre alt, bedeutet ihm höflich, aber bestimmt, sich erst anzumelden. „We have rules, you know“, sagt er. „Wir haben Regeln.“ Genau hier liegt das Problem. Die Gäste kennen diese Regeln nicht, sie bringen aus ihrer Heimat andere mit. Am einfachsten sei es mit Syrern, „die kommen meist aus der Mittel- oder Oberschicht ihres Landes“, womit sich ihr Erscheinungsbild erklärt. Kriegsflüchtlinge sind sie trotzdem. Problematischer sei es etwa mit den Menschen aus Eritrea, „die sind es gewohnt, sich durchzumogeln“, sagt Beutler. Die Kosovo-Albaner wiederum hätten „in ihrer Heimat lernen müssen, sich durchzuboxen“. In der Begegnungsstätte bringt man viel Verständnis für die Kulturunterschiede auf, pocht aber auf die Regeln der hiesigen Kultur. Will Standards auf niedriger Schwelle vermitteln: Man muss sich anstellen. Man soll den Müll wegräumen. Man darf nicht allerorts Feuer entzünden. Frauen haben dieselben Rechte wie Männer. Scheinbar Selbstverständliches wird so zur Sisyphusarbeit. Der Kulturschock liegt also nicht nur bei den Bürgern, sondern naheliegenderweise auch bei den Flüchtlingen. Sie haben Gefahren hinter sich gelassen, haben die zumeist staubige Heimat gegen das Grün der Wälder und Wiesen auf der Alb eingetauscht. Haben nichts zu tun, laufen, mal allein, mal in Gruppen, durch die Gegend. Meist ziellos, in Gedanken an den nächsten Schritt, müssen sie die LEA doch schon nach wenigen Wochen verlassen. Können keine Wurzeln schlagen, müssen woanders wieder von vorne anfangen. Warten und nicht wissen, was geschieht. Das erzeugt Spannungen. Frank Maier, Leiter der LEA, steht am Fenster seines Büros und schaut auf das weitläufige Gelände, das seine wartenden Gäste durchstreifen. „Wir führen hier einen heißen Kampf“, sagt Maier. Einen gegen die Verhältnisse: Haben Maier und seine Kollegen an einem Tag die Flüchtlinge angemessen untergebracht, trifft am nächsten unerwartet ein neuer Schwung ein. Aufenthaltsräume wurden längst umgewidmet und mit Feldbetten bestückt. In der Enge liegt ein Gefahrenpotential. Genauso wie bei der Essensausgabe. Die Warteschlangen ziehen sich dann über das halbe Gelände, die Ausgabe erfolgt mittlerweile in vier Schichten. Ein ähnliches Bild herrscht an Tagen der Taschengeldausgabe, 140 Euro pro Monat bekommt jeder Flüchtling. Die LEA ist in diesen Tagen nicht nur Durchgangsstation, sie ist auch Durchlauferhitzer. Die Regierung Kretschmann war angetreten, die beste Flüchtlingspolitik in Deutschland betreiben zu wollen. Nun drohen die Aufnahmestellen zu kollabieren. Neulich auf dem Flüchtlingsgipfel wurde Abhilfe versprochen. |