Internetmob treibt Profianleger zu Milliarden-Verlusten Eine Horde von Zockern kauft Aktien geschwächter Firmen, treibt so deren Aktien in ungeahnte Höhen. Folge: Hedgefunds verlieren Milliarden. Walter Niederberger Publiziert heute um 09:51 Uhr
Gamestop, ein altbackener Videoanbieter, ist an der Börse in nur einer Woche um das Fünffache gestiegen. Gamestop, ein altbackener Videoanbieter, ist an der Börse in nur einer Woche um das Fünffache gestiegen. Foto: AFP Sie nennen sich «Degenerierte» und jagen wie Wölfe im Rudel. Rund drei Millionen spekulative Kleinanleger haben sich auf der Internetplattform Reddit zusammengetan, um Aktien geschwächter Firmen en masse zu kaufen und Hedgefonds in die Verlustzone zu treiben. Die Technologiebörse Nasdaq ist beunruhigt und ermuntert die Börsenaufsicht SEC (United States Securities and Exchange Commission), zu untersuchen, ob ein illegales «Pump and dump»-Spiel gespielt wird.
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Die Exzesse sind nur mit der Internet-Börsenblase von 2000 zu vergleichen. Gamestop, ein altbackener Videoanbieter mit immensen Verlusten, ist an der Börse in nur einer Woche um das Fünffache gestiegen. Letzten Sommer war die Aktie für vier Dollar zu haben, diese Woche schoss sie wie eine Rakete auf 380 Dollar.
Ebenso extrem ging es bei der bis vor kurzem vom Bankrott bedrohten Kinokette AMC zu und her. In nur einem Tag hob sie diese Woche um 260 Prozent ab. Die Reihe der Kursexplosionen nimmt jeden Tag weiter zu und umfasst nun gut ein Dutzend Aktien, darunter die alten Phonehersteller Nokia und Blackberry und Koss, ein Hersteller von Kopfhörern, der diese Woche mit einem Plus von 405 Prozent an einem Tag auffiel.
Hedgefonds ausgequetscht Dass dies nichts mit den fundamental verbesserten Geschäftsaktiven zu tun hat, ist offensichtlich. Alle diese Firmen sind schwach aufgestellt und weisen wenig Wachstum auf, wenn überhaupt. Gerade weil die Aussichten düster sind, sind Aktien wie Gamestop oder AMC das Ziel von Hedgefonds, die auf sinkende Kurse wetten und dies mithilfe von Leerverkäufen oder Optionen tun. Das aber geht nur so lange gut, wie ihnen wenig Käufer entgegenstehen. In diesem Fall eines «Short Squeeze» werden die Fonds sprichwörtlich ausgequetscht: Sie müssen Aktien kaufen, die sie mit der Hoffnung auf tiefere Preis ausgeliehen hatten, und treiben so die Kurse noch weiter nach oben. Das ist fatal, wie Citron und Melvin Capital, zwei grosse Hedgefonds, erfahren mussten. Entnervt warfen sie am Mittwoch das Handtuch und und lösten ihr Wetten gegen Gamestop auf. Verlust: mehr als fünf Milliarden Dollar. Das Total aller bisherigen Verluste der professionellen Spekulanten wird auf mehr als zehn Milliarden geschätzt. Allerdings: Leerverkäufer wie Citron agieren ebenso spekulativ und mit einem Verlustrisiko wie die Zocker auf Reddit.
Revolte der Kleinen? Hinter den Attacken stehen offenbar überwiegend jüngere Spieler, und viele scheinen zum ersten Mal im Börsengeschäft dabei zu sein. Ihr bevorzugtes Forum ist «Wall Street Bets» auf Reddit, eine für ihre lockeren Vorschriften und kontroversen Inhalte bekannte Internetplattform. Für Alexis Ohanian, Mitbegründer von Reddit, ist das Treiben der kleinen Spekulanten kein Problem. Im Gegenteil erblickt er darin einen legitimen Aufstand gegen das Finanzestablishment. Ähnlich wie mit der Trump-Revolte «reagiert die Öffentlichkeit auf das, was ihr durch die Institutionen angetan wurde. Dank den sozialen Medien kann sich ein breiteres Publikum gegen die Institutionen auflehnen.» Ganz begeistert äussern sich auch die Player auf Reddit: «Wir haben Gamestop befreit», heisst es da. «Bestell eine andere Runde, denn wir gehen nicht weg.» Und auch das: «Die Notenbank kann ungestraft die Märkte manipulieren, aber wir auf Reddit sollen reguliert werden.»
Alexis Ohanian, Mitbegründer von Reddit, sieht im Treiben der kleinen Spekulanten kein Problem. Alexis Ohanian, Mitbegründer von Reddit, sieht im Treiben der kleinen Spekulanten kein Problem. Foto: Keystone Von Vorteil ist für die Zocker, dass sie nicht viel Geld in die Hand nehmen müssen. Kaufoptionen mit kurzer Laufzeit sind billig, und neue Finanzanbieter wie Robinhood, die sich an Millennials richten, erleichtern Spekulationen mit tiefen Kommissionen. Hinzu kommt, dass wegen Corona mehr Leute im Internet Ablenkung suchen und auf ein Ende des Lockdown wetten. Dieser Optimismus für ein Ende der Misere ist am aktuellen Verhältnis zwischen aktiven Kauf- und Verkaufsoptionen an der New Yorker Börse abzulesen. Die Differenz zugunsten von Kaufoptionen ist die grösste seit dem Crash von 2000. Die vorherrschende Meinung derzeit ist noch, dass die Börse als Ganzes nicht absturzgefährdet ist, solange die Herdenmentalität auf Nischenaktien begrenzt ist.
Böses Ende geahnt Derweil werden die Hedgefonds, Finanzaufseher und Börsen nervös. Nasdaq-Direktorin Adena Friedman sagt, die Börsenaufsicht SEC müsse nun dringend untersuchen, ob illegal gezockt werde. Die Nasdaq beobachte das Geschehen sehr genau und werde jeden verdächtigen Handel unterbrechen. Das nützte bisher freilich nichts: Gamestop wurde an der New Yorker Börse bereits neunmal gestoppt, setzte aber den Kursanstieg ungebremst fort. Einmal mehr in den Blickpunkt rückte auch Tesla-Chef Elon Musk, nachdem er mit einem Tweet die Euphorie noch angeheizt hatte.
Altgediente Börsenbeobachter glauben, dass die Sache für die meisten Zocker böse enden wird. «Wir haben es 1999 gesehen und sehen es erneut», sagte Kashif Ahmed, der Präsident des Vermögensverwalters American Private Wealth. «Es wird ein Blutbad geben.» |