Masha Gessen: „In Deutschland würde Hannah Arendt den Preis heute nicht erhalten“ Masha Gessen über das Debakel der Verleihung des Hannah-Arendt-Preises und den Essay im „New Yorker“, in dem Gaza mit einem jüdischen Ghetto unter NS-Herrschaft verglichen wird. Guten Abend Masha Gessen, wie fühlen Sie sich gerade? Etwas überwältigt, aber alles in allem gut. An diesem Wochenende steht die Verleihung des Hannah-Arendt-Preises an Sie an. Die Bremer Niederlassung der Deutsch-Israelischen Gesellschaft forderte, dass Sie den Preis nicht bekommen, die Heinrich-Böll-Stiftung zog sich daraufhin von der Preisverleihung zurück. Können Sie Ihre Sicht der Dinge schildern? Ich sollte am Mittwochnachmittag von New York nach Bremen fliegen. Als ich aufwachte, erhielt ich eine Nachricht von einem der Organisator:innen des Preises, der mir mitteilte, dass die Heinrich-Böll-Stiftung ihre Zusage zurückgezogen habe und der Preis seinen Veranstaltungsort, das Bremer Rathaus, verlor. Aber sie sagten auch, sie stünden zu mir und würden den Preis weiterführen. Ich glaube, im Moment ist noch nicht klar, ob das Preisgeld noch mit dem Preis verbunden ist. Ich habe kurz überlegt, ob ich überhaupt noch nach Bremen kommen soll. Aber ich dachte mir – wenn sie zu mir stehen, sollte ich auch kommen. Hier bin ich. Die Böll-Stiftung begründete ihren Rückzug von der Preisverleihung in einer Pressemitteilung mit Ihrer Beschreibung Gazas als „Ghetto“, welches in Ihren Augen durch Israel „liquidiert“ werde. War das eine gezielte Polemik? Stehen Sie hinter dieser Bezeichnung? Sehen Sie, die Singularität des Holocausts, das ist ja das Hauptargument meines Essays, wird in der Regel so verstanden, dass er nicht mit anderen Dingen verglichen werden darf. Ich wiederum denke, die Singularität des Holocausts bedeutet, dass er immer mit anderen Dingen verglichen werden sollte. Das ist buchstäblich die Substanz des Satzes: „Nie wieder“. Wir, Menschen, die im Jahr 2023 leben, sind nicht irgendwie intelligenter oder moralischer als Menschen vor 80, 90 Jahren. Der einzige Unterschied zwischen ihnen und uns ist, dass der Holocaust für uns bereits in der Vergangenheit liegt. Dinge, die während oder vor dem Holocaust passiert sind, mit Dingen zu vergleichen, die heute passieren, ist unsere beste Chance zu verhindern, dass der Holocaust sich wiederholt. Das ist mein prinzipieller Standpunkt. Das ist nicht als Provokation gemeint. Ich denke, wir haben eine moralische Verpflichtung, Vergleiche anzustellen. ...
https://www.fr.de/kultur/gesellschaft/...dt-preis-eklat-92731175.html
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