RUSSLAND UND DEUTSCHLAND: Neun Worte über Nord Stream 2 EIN KOMMENTAR VON KONRAD SCHULLER-AKTUALISIERT AM 07.02.2021-10:11 Angela Merkel und Wladimir Putin nach Ukraine-Verhandlungen im Jahr 2015 Bildbeschreibung einblenden
Nach dem russischen Urteil zu Nawalnyj muss die Kanzlerin nur einen einzigen Satz sagen. Sie könnte damit Putin Grenzen setzen, Biden gewinnen und Europa einen. Und sie müsste nicht einmal Fehler gestehen.
MERKEN 48 44 3 Min. Wenn Alexej Nawalnyj demnächst den Weg ins Straflager antritt, kommt für Angela Merkel der Augenblick, neun Worte zu sprechen. Sie könnten lauten: Ich kann die Gasleitung Nord Stream 2 nicht unterstützen. Auf den ersten Blick wäre das nicht viel. Offiziell hat Merkel die Ostsee-Pipeline ja sowieso nie unterstützt. Sie hat nur gesagt, die Röhre sei privat und sie sehe keinen Grund, sie zu verhindern. Merkel müsste mit so einem Satz also keinen Irrtum gestehen. Trotzdem wäre die Wirkung gewaltig.
Zuerst würde sie manche europäischen Partner in wachen Aktionsmodus setzen. Die meisten, voran Polen und Frankreich, waren entweder schon immer gegen Nord Stream 2, oder zumindest sind sie es seit Wladimir Putins Angriffen auf Nawalnyj. Bisher konnten sie aber nichts tun. EU-Sanktionen, welche die russische Ostsee-Leitung endgültig oder vorläufig stoppen könnten, waren zwar immer schon möglich. Trotzdem hat nie jemand ernstlich beantragt, sie im Europäischen Rat zu beschließen. Schließlich wusste jeder, dass Merkel ihr Veto einlegen würde.
In der Sekunde aber, in welcher sie sagt, dass sie die Leitung nicht unterstützt, wäre klar: Ein Veto wird nicht kommen. Merkel müsste dann nichts weiter tun. Wenn etwa Polen Sanktionen auf die Tagesordnung setzte, müsste sie sich nur der Stimme enthalten.
Europa kann die Verletzung von Verträgen nicht ignorieren Ein Satz aus Berlin würde Europa damit ein Mittel geben, dem Drama um Nawalnyj Taten folgen zu lassen. Das muss jetzt sein, denn der Fall ist keine innere Angelegenheit Russlands. Er ist die jüngste aus einer ganzen Reihe von Völkerrechtsverletzungen seit der Annexion der Krim 2014. Nawalnyjs Festnahme ignoriert einen Beschluss des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, der Nowitschok-Anschlag auf ihn verletzt den Chemiewaffen-Sperrvertrag von 1997. Europa aber ist im Kern aus Verträgen gebaut. Es kann ihre Verletzung nicht ignorieren.
Aber nicht nur die abstrakten Werte der EU würden durch neun Worte aus dem Kanzleramt gestärkt, sondern auch ihr realer Zusammenhalt. Putins Pipeline dient dem Ziel, die Ukraine als Gas-Transitland zu umgehen. Wenn die Röhre fertig ist, kann der Präsident den eingefrorenen Krieg gegen dieses Land neu entfachen, ohne Störungen im West-Export fürchten zu müssen. Für die Nato-Länder im Osten wäre das eine neue Dimension russischer Bedrohung. Deshalb haben sie Merkels Duldung der Leitung immer als Missachtung ihrer Kerninteressen betrachtet. Auch Frankreich sieht das so. Damit droht Deutschland, das Gravitationszentrum der EU, Bindungskraft zu verlieren. Ein klärendes Wort kann das ändern.
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Es würde auch den Neustart mit Amerika leichter machen. Dort gilt Nord Stream 2 als Bedrohung, und Präsident Biden hat in einer Grundsatzrede am Donnerstag eine härtere Gangart gegenüber Russland angekündigt und die Zeit des Wegschauens für beendet erklärt. In Deutschland hoffen zwar manche jetzt, Washington durch Versprechen zu beruhigen: Wenn Russland sich irgendwann schlecht benimmt, könne die Leitung ja immer noch gesperrt werden. Überzeugend ist das nicht. Wenn die ukrainische Gasroute durch einen neuen russischen Krieg tatsächlich ausfiele, wäre Deutschland möglicherweise gar nicht in der Lage, auch die Ostsee-Leitung zu sperren. Irgendwo muss das Gas ja herkommen, wenn der Kohleausstieg klappen soll. Deshalb wird Nord Stream 2 Deutschlands Beziehung zu Amerika auch unter Biden schwer belasten. Wenn die Kanzlerin jetzt den Knoten durchschlägt, wird der Neustart leichter.
Ein Fenster für Verhandlungen Mit Putin wiederum könnte man dann Klartext reden. Wenn sein Ostsee-Projekt in Gefahr geriete, könnte sogar der russische Präsident verstehen, dass er die Aggression gegen die Ukraine, die getarnte Militärintervention in Libyen und jetzt die völkerrechtswidrigen Schikanen gegen Nawalnyj nicht gratis haben kann. Putin hätte dann Grund, den Ausgleich zu suchen. Er könnte sich zum Beispiel fragen, ob es nicht Zeit ist, seine irregulären Truppen in der Ostukraine tatsächlich abzuziehen.
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Innenpolitisch würde die SPD zwar murren. Von Schröder bis Schwesig hat die Partei sich für die Ostsee-Leitung verkämpft. Aber könnte sie etwas tun, wenn Merkel das Projekt fallenließe? Könnte sie mitten in der Pandemie die Koalition verlassen, nur um Putin zu helfen? Und Nawalnyj im Stich zu lassen? Das wäre politischer Selbstmord. Weil die Grünen Nord Stream 2 geschlossen ablehnen, wäre es auch das Ende aller grün-rot-roten Träume, und die Sozialdemokraten wissen das. Wenn Merkel die neun Worte spricht, werden sie stillhalten. |