Kennt ihr Ockhams Rasiermesser?
Welches ist die einfachste und plausibelste Theorie, um den Sachverhalt hinreichend zu erklären?
1. Wirecard lässt 1,9 Mrd. € auf Treuhandkonten in Asien verwahren. Der Betrag entspricht ungefähr einem Viertel der Bilanzsumme von Wirecard, oder, anders ausgedrückt, dem Gewinn vieler Jahr wirtschaftlicher Aktivität des Unternehmens. Treuhänder 1 in Singapur entschließt sich in Q4 2019 spontan dazu, das Treuhandgeschäft nicht mehr weiterzuführen; eine gleichzeitig stattfindende Prüfung hat nichts mit seiner Entscheidung zu tun. Danach ist er nicht mehr erreichbar, was nichts mit seiner Treuhandtätigkeit für Wirecard zu tun hat, sondern auf andere Gründe zurückzuführen ist. Wirecard entschließt sich, nun Treuhänder 2 zu beauftragen. Treuhänder 2 wird allein aufgrund der Empfehlung des vorangegangen Treuhänders ausgewählt; eine Ausschreibung oder ein anderes Verfahren findet ebensowenig statt wie eine Prüfung und Beurteilung seiner wirtschaftlichen Verhältnisse und seiner Zuverlässigkeit. Wirecard verlässt sich hier auf das Wort von Treuhänder 1, den man ebensowenig geprüft hat, dem man aber einfach vertraut. Schließlich ist Menschenkenntnis alles im Geschäft. Von daher war es auch nicht notwendig, einen schriftlichen Vertrag mit Treuhänder 2 zu schließen. Ja, man vertraute ihm so sehr und war sich so sicher, dass dies die einzig richtige Entscheidung war, dass man den Beschluss, ihn als Treuhänder heranzuziehen, rein formell erst im Februar 2020 fasste, obwohl der Treuhänder 2 schon seit November 2019 tätig war - wie gesagt, ohne Vertrag, sondern auf Zuruf. Im Sonderbericht von KPMG fand Wirecard nichts, was besorgniserregend wäre und dem man nachgehen müsste. Am 18. Juni erfuhr man dann ganz überraschend von EY, dass für Bankguthaben auf Treuhandkonten in Höhe von insgesamt 1,9 Milliarden Euro noch keine ausreichenden Prüfungsnachweise vorlägen. Noch überraschter war man, als am 19. Juni die beiden philippinischen Banken, bei denen der Treuhänder die Milliarden verwahrte, jede Geschäftsbeziehung mit Wirecard leugneten. Das hatte man nicht erwartet, man hatte sich doch so sehr auf seine Menschenkenntnis verlassen!
2. Wirecard ist ein junges Unternehmen, das sehr schnell wachsen will. Man ist getrieben vom Willen, etwas ganz Großes zu erreichen. Immer wieder gibt es aber Hindernisse zu überwinden, etwa Banken, die keine Kredite geben wollen, und Investoren, die skeptisch sind, und Medien, die alles bekritteln. Um besser an Kredite zu kommen und schneller wachsen zu können, lässt man fünfe auch mal gerade sein und zieht bestimmte Gewinnerwartungen vor. Das macht die Bilanz größer und eigentlich schadet man damit niemandem. Jetzt hat man einmal damit angefangen - und muss weitermachen, auch wegen der hohen Erwartungen an Wirecard. Im Unternehmen in München stellt man bevorzugt Leute ein, die nicht allzu viele Fragen stellen, etwa hungrige junge Leute aus Indien und Pakistan; nur der engste Führungskreis weiß Bescheid. Später wird man das aber sicher wieder in Ordnung bringen! Wenn man nur schnell genug wächst, werden die Summen irgendwann keine Rolle mehr spielen. Die erfundenen Summen plaziert man irgendwo in Asien, wo niemand so genau hinschaut. Da die Beträge gar nicht existieren, sucht man sich die Treuhänder nicht nach Qualifikation aus, sondern nach Wohlverhalten und Verschwiegenheit; auch sonst verfährt man eher still und hinterlässt wenig Spuren, etwa Verträge oder offizielle Beschlüsse. Als ein Verdacht geäußert wird, reagiert man abwiegelnd. Man versucht abzuleugnen, wo immer es geht, und den Schein aufrechtzuerhalten, solange es geht, auch mit Hilfe kleiner Tricks - in der Hoffnung, dass alles gut wird und bei weiterem echtem Wachstum und echten Gewinnen die Anfangsschwierigkeiten nicht mehr von Relevanz sein werden.
Welche Theorie wirkt glaubwürdiger auf euch? |