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Projekt Lightspeed: Die CFO-Perspektive auf den Transformationsprozess bei BioNTech Serie 17.07.2025 ManCon 2025
Wie gelingt Transformation in Echtzeit – unter globalem Druck, unsicherer Datenlage und enormer Verantwortung?
Jens Holstein, CFO von BioNTech bis zum 30. Juni 2025, gewährte einen bemerkenswert offenen Einblick in die Steuerungslogik des Unternehmens während der COVID-19-Pandemie.
Sein Vortrag machte deutlich: Moderne Finanzführung bedeutet heute weit mehr als Budgetkontrolle – sie ist Gestaltungsraum für Strategie, Kultur und Innovation.
Im Zentrum seines Beitrags stand die Frage, wie sich Finanzfunktionen neu aufstellen müssen, um in hochdynamischen Umfeldern handlungsfähig zu bleiben – strukturell, kulturell und technologisch. Holstein betonte dabei, dass agile Steuerung und datenbasierte Entscheidungsprozesse kein Ausnahmefall, sondern Dauerkompetenz für die Zukunft sein müssen. Lightspeed und finanzielle Steuerung unter Extrembedingungen
Im Januar 2020, bei ersten Berichten über SARS-CoV-2, begann für BioNTech eine Entwicklung, die den Biotech-Sektor weltweit verändern sollte. Unter dem Projektnamen "Lightspeed" entstand binnen elf Monaten ein marktreifer mRNA-Impfstoff – ein Prozess, der in der Branche üblicherweise rund zwölf Jahre dauert.
Holstein betonte: Die Geschwindigkeit war kein Risiko, sondern das Ergebnis einer radikal fokussierten Finanzsteuerung. Entscheidungen mussten unter Zeitdruck und Unsicherheit getroffen werden – ohne auf belastbare Benchmarks zurückgreifen zu können. Die Rolle des CFOs war dabei nicht die eines reaktiven Kontrollorgans, sondern die eines aktiven Mitgestalters – mit Verantwortung für Prioritätensetzung, Investitionsabsicherung und eine dynamische Ressourcenallokation.
Diese Rolle erfordert Mut – nicht nur in der Organisation, sondern auch auf individueller Ebene. Von der Produktentwicklung zur Plattformstrategie
Die Skalierung der COVID-19-Impfstoffproduktion war für BioNTech der wirtschaftliche Durchbruch. Doch es war bei Weitem nicht das Ende der Unternehmensambitionen. Holstein machte deutlich, dem Unternehmen gehe es heute um mehr als um Einzelprodukte. Ziel sei der Aufbau eines globalen, vollintegrierten, innovativen Immuntherapieunternehmens, langfristig erfolgreich durch eine breit angelegten Plattformstrategie.
Ein zentrales Element der strategischen Ausrichtung von BioNTech ist die konsequente Erweiterung der Forschungs- und Entwicklungspipeline – mit klaren Schwerpunkten in den Bereichen Onkologie, Infektionskrankheiten und individualisierte Therapien. Jens Holstein betonte in seinem Vortrag, dass unternehmerische Visionen und Werte nicht nur formuliert, sondern aktiv gelebt und regelmäßig überprüft werden müssen. Mit der rhetorischen Frage „Wie oft schaut man die sich an?“ lenkte er den Blick auf ein weit verbreitetes Defizit: Strategische Leitbilder werden zwar häufig erstellt, aber nur selten dauerhaft in die Steuerungslogik eingebunden.
BioNTech geht hier einen anderen Weg: Die Vision des Unternehmens dient nicht nur als Orientierung, sondern fungiert als aktiver Entscheidungsrahmen – etwa für Investitionen, Partnerschaften und die Organisationsentwicklung. Dabei stehen drei zentrale Werte im Fokus:
Eine innovative und diversifizierte Pipeline, Verantwortung für Gesundheit und Gesellschaft und Innovationskraft durch eine lernfähige Organisation und Kultur.
Holstein unterstrich, dass diese Werte nicht abstrakt bleiben, sondern in der Praxis kontinuierlich reflektiert und konkret umgesetzt werden, unter anderem durch gezielte Zukäufe wie die Übernahme der KI-Firma InstaDeep oder durch neue Partnerschaften im Bereich personalisierter Krebstherapien. Kultureller Wandel als Führungsaufgabe
Ein zentrales Motiv von Jens Holsteins Vortrag war der kulturelle Wandel als Voraussetzung für echte Transformation. Er betonte, dass Veränderungen in Strategien oder Technologien allein nicht ausreichen, entscheidend sei die Fähigkeit einer Organisation, sich von überholten Strukturen und Denkweisen zu lösen. Transformation beginne dort, wo Vertrautes kritisch hinterfragt und Neues zugelassen werde.
Der Ex-CFO sprach in diesem Zusammenhang von einem notwendigen Übergang vom Festhalten zum Loslassen. Wer Prozesse verändern wolle, müsse auch bereit sein, gewohnte Pfade zu verlassen und dies gelte nicht nur für Systeme, sondern ebenso für das Denken dahinter. Es brauche Mut, Risikobereitschaft und Führungskompetenz, um diesen Wandel aktiv zu gestalten.
Dass nicht jede Innovation erfolgreich ist, sei laut Holstein kein Scheitern, sondern Teil eines professionellen Steuerungsprozesses. Gerade in der Pharmaindustrie sei dies Realität: Nur etwa drei Prozent aller selbst entwickelten Wirkstoffe schaffen den Markteintritt. Umso wichtiger sei es, auch das gezielte Stoppen und Anpassen von Projekten als Stärke zu begreifen und nicht als Rückschritt.
Ein weiterer Erfolgsfaktor sei die Fähigkeit zur Vernetzung innerhalb und außerhalb der Organisation. „Netzwerke helfen“, brachte es Holstein auf den Punkt. Sie erhöhen nicht nur die Reaktionsgeschwindigkeit, sondern fördern den Zugang zu Wissen, Perspektiven und Lösungsansätzen, insbesondere in dynamischen Innovationsumfeldern.
Zugleich hob Holstein die Bedeutung der Mitarbeitenden hervor: "Das Wichtigste sind unsere Mitarbeiter", so seine klare Aussage. Transformation werde nicht "von oben" verordnet, sondern entfalte ihre Wirkung durch Wissen, Engagement und Eigenverantwortung in den Teams. Der kulturelle Wandel müsse deshalb durch eine Unternehmenskultur begleitet werden, die Vertrauen schafft, Beteiligung ermöglicht und Lernen zulässt. Die CFO-Rolle im Wandel: Vom Zahlenverwalter zum strategischen Möglichmacher
Abschließend plädierte Holstein für ein neues Rollenverständnis im Controlling. Der CFO von heute sei weit mehr als ein "Verwalter von Zahlen" – er sei Gestalter, Möglichmacher und Brückenbauer zwischen Wissenschaft, Markt und Organisation. Die Steuerungsfunktion der Finanzabteilung erschöpfe sich nicht in der Kontrolle von Kennzahlen. Vielmehr gehe es darum, strategische Orientierung zu geben, Entscheidungen zu ermöglichen und den unternehmerischen Sinn mitzugestalten.
Bei BioNTech zeigt sich dies in einer Finanzorganisation, die als lernendes System agiert: mit hoher Eigenverantwortung, agilen Prozessen und einem tiefen Verständnis für technologische wie wissenschaftliche Zusammenhänge.
In diesem Selbstverständnis wird der CFO zur Schlüsselposition im Wandel. Nicht nur als Zahlenexperte, sondern als Katalysator für Innovation und Veränderung. Fazit: Steuerung bedeutet mehr als Kontrolle
Jens Holstein machte auf dem ManCon-Kongress deutlich: Die Finanzfunktion kann und muss Taktgeber der Transformation sein. Wer morgen erfolgreich steuern will, braucht mehr als Systeme und Prozesse, vielmehr geht es um Haltung, Geschwindigkeit und die Bereitschaft, sich selbst immer wieder neu zu justieren.
Projekt Lightspeed ist nicht nur ein medizinischer Meilenstein. Es ist auch ein Beispiel dafür, wie mutige Finanzführung unter extremen Bedingungen Verantwortung, Klarheit und Wirkung entfalten kann.
cest ca
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