Osnabrück. Magnus Striet ist ein renommierter Theologieprofessor. Sein Spezialgebiet: Die Frage "Wie kann Gott Leid zulassen?" Außerdem erklärt Striet, worum man sinnvollerweise im Gebet bitten kann. Den Umgang des Papstes mit den Auswirkungen des Virus' sieht der Fundamentaltheologe kritisch.
In den vergangenen Wochen haben einige Christen das Coronavirus als „Strafe Gottes“ bezeichnet, allen voran ein katholischer Schweizer Weihbischof. Ist das Virus eine Strafe?
Das ist eine Theologie, die völlig veraltet ist. Damit wird bereits in biblischen Zeiten aufgeräumt. Der immer wieder behauptete Zusammenhang, der Mensch versündige sich und Gott bestrafe dies, ist zutiefst unchristlich. Kein ernstzunehmender Theologe würde Epidemien als Strafe Gottes interpretieren.
Wie kommt der Weihbischof auf diese Idee?
Hintergrund ist eine Theologie, die sich extrem auf die vermeintliche Sünde des Menschen konzentriert. Gleichzeitig kommt man zu solchen absurden Einordnungen, wenn man versucht, eine Katastrophe so zu interpretieren, dass die Güte Gottes nicht gefährdet ist. Das geht bis ins vierte, fünfte Jahrhundert, bis auf Augustinus zurück. Der sah keine andere Möglichkeit, als die gesamten Übel in der Welt auf die Sündhaftigkeit des Menschen zurückzuführen.
Da sind wir schon mitten in Ihrem Forschungsgebiet – wie kann der christliche Gott denn dann solche Unglücke zulassen, wenn er doch allwissend, allmächtig und allgütig sein soll?
Ich würde es so formulieren: Wenn man sich solche Naturkatastrophen ansieht, wird der Raum für den Glauben an die Güte Gottes eng. Dieser Gedanke ist aber keineswegs neu. Er taucht schon im 14. Jahrhundert beim italienischen Dichter Boccaccio auf, der von der „Grausamkeit des Himmels“ spricht. Letztlich gibt es keine Erklärung. Das Problem bleibt ungelöst. Auch gläubige Menschen werden nur aushalten können, dass es Katastrophen gibt und die Klage an Gott richten können. Der Mensch jedenfalls verschuldet diese nicht.
Es nicht auflösen zu können ist aber schon unbefriedigend, oder?
Ja, es ist unbefriedigend. Aber es ist intellektuell redlicher als wenn man Lösungen anbietet, die ethisch hochgradig fragwürdig sind oder mit einer Theologie operieren, die im 21. Jahrhundert nicht mehr akzeptabel sind.
Der Papst hat jetzt ein Kreuz aus der Pestzeit in den Vatikan bringen lassen, das mit Wundern in Verbindung gebracht wird. Er bittet um ein Ende der Epidemie. Inwieweit passt das zur christlichen Theologie?
Das Bittgebet hat natürlich eine sehr lange Tradition. Ich selber bin skeptisch. Eine solche Epidemie wird durch die Medizin, durch medizinischen Fortschritt bekämpft, aber nicht durch ein Bittgebet. Insofern sind solche Traditionen, die jetzt reaktiviert werden, Teil eines vormodernen Weltbildes. Die Bilder, die Papst Franziskus produziert hat, waren natürlich sehr beeindruckend. Ein einsamer Mann, der auf dem Petersplatz steht. Aber die Theologie, die er dort aufgerufen hat, lässt sich vor dem Hintergrund eines naturwissenschaftlich-aufgeklärten Weltbildes kaum noch vermitteln.
Nicht nur der Papst, auch viele ganz normale Gläubige bitten Gott im Gebet darum, Familienangehörige und geliebte Menschen zu verschonen.
Ich möchte Menschen nicht absprechen, dass sie mit größter Redlichkeit beten. Wenn ich allerdings die These vertreten würde, mein Bittgebet habe das Überleben von Angehörigen ermöglicht, dann habe ich in Bezug auf andere Menschen, die gestorben sind, nur zwei Möglichkeiten: Entweder hat jemand anderes nicht intensiv oder gut genug gebetet, oder Gott agiert völlig willkürlich. Da plädiere ich doch sehr dafür, überhaupt nicht auf die Wirksamkeit des Bittgebets zu setzen. Dass Gott die einen rettet und die anderen ins Unglück laufen lässt, kann man nicht ernsthaft vertreten.
Das wäre vermutlich auch schwer durchzuhalten. In Italien sterben Priester, die Coronakranken das Sterbesakrament erteilt haben, es sterben Kinder, Babys.
Diese Diskussionen werden schon lange geführt. Wenn man von Albert Camus „Die Pest“ liest – da ist es klassisch durchexerziert. Ein Kind soll mit einem neuartigen Medikament gerettet werden, und es stirbt dennoch, sogar besonders qualvoll.
Welchen Sinn hat dann das Gebet?
Das Gebet ist in solchen Situationen vor allem Klage, und: Ein am Ende dann doch vertrauensvolles Sich-Fest-Machen in Gott. Gott ist ein Hoffnungswort, die Hoffnung auf eine erlösende Zukunft, die kein Mensch gewährleisten kann.
Gilt das christliche Erlösungsversprechen auch für Nicht-Christen, etwa Atheisten, Muslime, Agnostiker?
Selbstverständlich.
Laut Papst Franziskus sollen jetzt alle mit dem Coronavirus Erkrankten einen Ablass erhalten. Warum werden Erkrankte bessergestellt und was bringt dieser Ablass überhaupt?
Da verweise ich auf die theologischen Überlegungen der Protestanten. Es wäre sinnvoll, endlich mit dem gesamten Ablassdenken zu brechen. Im Übrigen halte ich es auch für problematisch, dass Papst Franziskus in seiner Predigt vor zwei Wochen von „Mahnrufen“ Gottes gesprochen hat.
Wie sind Christen früher mit Seuchen umgegangen?
Da gibt es einen gravierenden Unterschied. Die Menschen lebten damals in akuter Heilsangst. Damals lautete die Frage nicht: Gibt es ein Jenseits? Sondern: Wie geht es für mich und die anderen aus? Man hatte kein virologisches Wissen. In Seuchenzeiten hat man sich dennoch versammelt, ohne zu wissen wie gefährlich das ist. Alles Erdenkliche wurde praktiziert, um das Seelenheil zu gewinnen. Diese Heilsangst hat sich verflüchtigt.
Auch ohne Gottesbezug fassen viele Menschen das Virus auf als Resultat eines angeblich verdorbenen Wirtschaftssystems, globaler Verflechtung, sogar verfehlter Umweltpolitik. Braucht es überhaupt noch die Religion, um dem Ganzen einen Sinn zu geben?
Solche Krisen haben immer religionsproduktiv gewirkt. Die Funktion von Religion war immer, Trost zumal in Krisenzeiten zu spenden. Meine Frage ist deswegen vielmehr: Wie kann man diese Funktion aufrechterhalten, ohne zu einem Weltbild zurückzukehren, das überhaupt nicht mehr kompatibel ist mit der Art und Weise, wie wir leben, und unserem Wissen von den Naturzusammehnängen.
Haben Sie eine Antwort auf diese Frage?
Ja. Ich halte es mit dem späten Dietrich Bonhoeffer, der in der Gestapo-Haft unter ganz anderen Bedingungen sagte, wir müssten lernen, zu leben, als gäbe es keinen Gott. Übersetzt heißt das, wir müssen selbst die Epidemie bekämpfen, wir sollten keinen Gott erwarten, der wunderwirkend eingreift, wir müssen die Epidemie selbst in den Griff bekommen – und dies vertrauend vor Gott.
Zum Wesenskern des christlichen Glaubens gehört die Gemeinde. Was bedeutet es, wenn nun Gottesdienste länger ausfallen?
Das ist sicherlich schade, weil Menschen nicht alleine glauben, sondern in Gemeinschaften. Aber es zeigt sich derzeit auch etwas anderes: Der wichtigste Gottesdienst ist Solidarität, praktische Nächstenliebe. Dies galt auch für den Juden Jesus aus Nazareth, dem das Wort zugeschrieben wird: „Wenn Du beten willst, so gehe in deine Kammer.“ Gemeinsam Liturgie zu feiern ist schön, aber Gott braucht dies für sich nicht. Wer aus seinem Glauben heraus für ältere Menschen einkaufen geht, feiert auch Gott. Und es werden schon wieder andere Zeiten kommen. |