Was meint die AfD, wenn sie von Volk spricht?
Der deutsche Inlandgeheimdienst sieht die AfD als extremistischen Verdachtsfall an. Zentral ist dabei der Volksbegriff. Sind deutsches Volk und Staatsvolk einfach dasselbe? Der ehemalige SPD-Politiker und Verfassungsschutzkenner Mathias Brodkorb erklärt, worum es in der Auseinandersetzung geht.
Herr Brodkorb, wer oder was ist ein Deutscher?
Gemäss deutscher Verfassung ist die Antwort klar. Nach Artikel 116 ist Deutscher, wer deutscher Staatsbürger oder deutscher Volkszugehöriger ist.
Das ist offenbar nicht einfach dasselbe.
Genau. Volkszugehörige sind gemäss Grundgesetz Menschen, die von Deutschen abstammen und sich zur deutschen Kulturnation bekennen, aber keine deutschen Staatsbürger sind. Nur deshalb konnte Bundeskanzler Helmut Kohl nach der Wende Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion einladen, in die Bundesrepublik zu kommen, um dort deutsche Staatsbürger zu werden.
Weil sie schon vorher Deutsche waren – wenn auch keine Staatsbürger?
So ist das Grundgesetz meines Erachtens zu verstehen. Und deutsche Volkszugehörige gibt es bis heute. Konkret ist das im Bundesvertriebenengesetz geregelt. Weil das Grundgesetz von einer doppelten Definition des Deutschseins ausgeht – Staatsbürger einerseits, Volkszugehörige andererseits –, haben Letztere bis heute das Recht, deutsche Staatsbürger zu werden.
In Münster muss jetzt das von der AfD angerufene Oberverwaltungsgericht darüber entscheiden, ob die Partei vom Inlandgeheimdienst als extremistischer Verdachtsfall geführt werden darf. Die Frage des Volksbegriffs spielt dabei eine zentrale Rolle. Worum dreht sich der Streit?
Viele Menschen dürfte das überraschen. Die meisten nehmen wahrscheinlich an, dass es um Gewalt und die Planung politisch motivierter Straftaten geht, wenn der Verfassungsschutz eine politische Partei ins Visier nimmt. Aber das ist hier tatsächlich nicht der Fall. Hier geht es wirklich um den Volksbegriff.
Warum?
Dazu muss man einen Schritt weg von der AfD machen. Ausgelöst wurde die derzeitige Debatte durch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2017. Damals erklärte das Gericht die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD; heute: Die Heimat, Anm. d. Red.) für eindeutig rechtsextrem. Als Beleg führten die Richter vor allem deren biologistischen Volksbegriff an. Der geht aus Parteidokumenten klar hervor. Ein Zitat belegt das besonders: «Die Staatsbürgerschaft muss an die Volkszugehörigkeit gebunden sein. Wie sagt auch der Volksmund: Blut ist dicker als Tinte.» Das erinnert mit Recht an die NSDAP. Die Verfassung, so die Richter, kennt aber keinen «ausschliesslich an ethnischen Kategorien orientierten Begriff des Volkes». Somit ist die NPD eindeutig verfassungswidrig.
Was heisst das für den Fall AfD?
Entscheidend für den Fall AfD ist: Die Richter sahen es nicht bereits als verfassungswidrig an, die Zugehörigkeit zum deutschen Volk überhaupt an ethnischen Kriterien auszurichten. Ethnische Kriterien dürfen aber nicht dazu verwendet werden, um Bürger erster und zweiter Klasse zu schaffen. An dieser Begründung des Bundesverfassungsgerichts nimmt der Verfassungsschutz nun Mass und versucht die AfD ebenfalls eines biologistischen Volksbegriffs zu überführen.
Und? Passt die AfD ins NPD-Schema?
Die Lage ist deutlich komplizierter als bei der NPD. Dort lag das offen zutage. Das Parteiprogramm der AfD hingegen enthält solche Positionen nicht. Der Inlandgeheimdienst bezieht sich deshalb auf einzelne Wortmeldungen von AfD-Mitgliedern. Er glaubt, dass sich eine signifikante Zahl von ihnen im Sinne des extremistischen Volksbegriffs der NPD geäussert hat. Und tatsächlich gibt es solche Wortmeldungen. Die Frage ist aber, ob es sich hier bloss um Einzelstimmen handelt oder um eine dominante Strömung dieser Partei mit über 40 000 Mitgliedern. Letzteres gerichtsfest zu belegen, ist sehr schwierig. Das wäre aber die Voraussetzung dafür, die AfD auf Bundesebene als gesichert extremistische Bestrebung einstufen und dauerhaft beobachten zu dürfen. Ich persönlich habe nicht nur wegen dieser Schwierigkeiten erhebliche Zweifel daran, dass die Argumente des Verfassungsschutzes vor dem Verfassungsgericht Bestand hätten.
Warum?
Weil die Behörde unheimlich viel interpretiert. Damit will ich gar nicht bestreiten, dass es auch klar extremistische Wortmeldungen aus der AfD gibt. Aber die vom Verfassungsschutz auf Bundes- und Länderebene angeführten Beispiele wirken oft arg zurechtgebogen. Es gibt zudem viele Fälle offenkundiger Fehlinterpretationen in den Akten des Verfassungsschutzes.
Aber spätestens bei Björn Höcke dürfte man doch fündig werden, oder? Der Thüringer Parteichef gilt landläufig als Vertreter einer völkischen Definition vom Deutschsein. Sein Landesverband wird vom Thüringer Verfassungsschutz als gesichert extremistisch beobachtet.
Es gibt Äusserungen von Höcke, die in diese Richtung gehen. Der Verfassungsschutz zitiert in einem Gutachten aus einer seiner Reden zum Beispiel den Satz: «Nur ein Volk kann Träger von Demokratie, also von Volksherrschaft sein!» Aus dem Kontext ergibt sich, dass er dabei aber nicht das Staatsvolk meint, sondern ein ethnisch definiertes Volk. Das ist gravierend verfassungswidrig. Das sieht auch der renommierte Verfassungsrechtler Dietrich Murswiek so. Er hat im Auftrag der AfD ein Gutachten verfasst, um die Vorwürfe der Verfassungsschutzbehörden überprüfen zu lassen. Und dabei kam heraus, dass zumindest in 20 Prozent der Fälle die Vorwürfe des Verfassungsschutzes unstrittig berechtigt sind, in 80 Prozent aber nicht. Mir liegt das Gutachten vor, aber die AfD hält es bis heute geheim.
Um Höcke zu schützen?
Das ist anzunehmen. Das Gutachten belastet eine Reihe von AfD-Mitgliedern, die auch heute noch in hohen Funktionen und Ämtern tätig sind. Die Veröffentlichung würde wahrscheinlich zu einer innerparteilichen Zerreissprobe führen. Da das Gutachten aber nicht einmal den Gerichten vorliegt, hat sich die AfD dadurch prozesstaktisch selbst geschwächt. Ich finde das letztlich erstaunlich.
Nun hat Höcke im Januar 2021 zusammen mit allen Chefs der AfD-Verbände in Bund und Ländern eine Erklärung unterzeichnet. Darin wird betont, dass deutsche Staatsbürger unabhängig von ihrer Herkunft stets gleich behandelt werden müssen. Die AfD-Führung lehnt rechtliche Diskriminierungen also ab, wenn sie auch an der Bewahrung der Identität des ethnisch-kulturell verstandenen deutschen Volkes festhalten will. Warum genügt das dem Verfassungsschutz nicht?
Nun, er wirft Höcke und der AfD insgesamt vor, mit solchen Erklärungen ihre in Wahrheit biologistischen Ansichten bloss zu kaschieren. Vor allem aber, und das macht die Konfusion jetzt perfekt, äussert sich der Verfassungsschutz widersprüchlich. Einmal hält er eine Position, wie sie die AfD in der genannten Erklärung vertritt, an sich für verfassungskonform. Er wirft der AfD aber vor, es damit nicht ernst zu meinen. Ein andermal aber hält er diese Position selbst für verfassungswidrig.
Wie das?
Er folgt damit renommierten Juristen. Diese verstehen die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 2017 so, dass jegliche Form eines ethnischen Volksbegriffs per se verfassungswidrig sei. Man dürfte demnach überhaupt nicht mit ethnischen Kriterien hantieren, weil das angeblich gegen die Menschenwürde der Staatsbürger nichtdeutscher Herkunft verstossen würde. Der Wortlaut des NPD-Urteils des Bundesverfassungsgerichts gibt diese Interpretation meines Erachtens aber nicht her. Wir sind also in einer Situation, in der nicht einmal diese zentrale Frage streitfrei geklärt ist. Diese Strittigkeit in der Rechtsauslegung überträgt sich auch auf die Arbeit des Verfassungsschutzes – und so kommt es zu einer widersprüchlichen Argumentation.
Aber weist die deutsche Staatspraxis hier nicht einen Ausweg? So unterstützt die Bundesrepublik die Nachfahren von vor Jahrhunderten etwa ins heutige Rumänien ausgewanderten Deutschen darin, ihr ethnisch-kulturelles deutsches Volkstum zu erhalten.
Tatsächlich unterstützt die Bundesrepublik jährlich mit Millionen Euro und wortwörtlich die «ethno-kulturelle Identität» auslandsdeutscher Volkszugehöriger. Das wiederum ergibt ja nur Sinn, wenn es so etwas wie ein deutsches Volk gibt, das nicht identisch ist mit der Summe der Staatsbürger. Wer aber dasselbe Ziel in der Bundesrepublik selbst verfolgt, wird wiederum per se als Verfassungsfeind klassifiziert. Damit erzeugt der Staat in seinem Handeln selbst diesen Widerspruch. Auch das ist eine Folge der rechtlichen Unklarheit in Sachen «ethnischer Volksbegriff».
Wie lässt sich diese auflösen?
Schwer zu sagen, die Lage ist ja letztlich schizophren. Aus meiner Sicht ist sie ein Kollateralschaden der Absicht, die AfD um jeden Preis an den Rand zu drängen. Man bezieht sich dafür auf das NPD-Urteil, weil man diesen Weg gegenüber dem Bundesverfassungsgericht für rechtssicher hält. Man merkt dabei aber nicht, dass man sich in Widerspruch zum eigenen Handeln setzt. Ich glaube nicht, dass diese Konfusion ohne das Bundesverfassungsgericht aufgelöst werden kann.
Das Verfassungsgericht muss also erklären, was es 2017 sagen wollte?
Ja. Es muss präzisieren, was wirklich gemeint war. Aus meiner Sicht und der einiger Staatsrechtler ist das schon jetzt klar. Andere sehen es hingegen anders. Diese Formulierung, dass das Grundgesetz einen «ausschliesslich an ethnischen Kategorien orientierten Begriff des Volkes» nicht kenne, schliesst aus meiner Sicht logisch ein, dass das deutsche Staatsvolk mit dem Begriff der Volkszugehörigen zum Teil eben doch auf «ethnischen Kategorien» basiert. Und was sollte sich in der Sache dahinter anderes verbergen als ein «ethnisch deutsches Volk» im kulturellen Sinne? Bereits die argumentative Verwendung eines «ethnischen Volksbegriffes» kann somit noch kein Anhaltspunkt für verfassungsfeindliches Denken sein.
Das überzeugt nicht alle.
Nein. Andere glauben, dass man letztlich das «deutsche Volk» und das deutsche Staatsvolk für stets miteinander identisch erklären muss, um kein Verfassungsfeind zu sein. Und diese Uminterpretation der Verfassungslage ist zur Grundlage auch für die gegenwärtige Rechtsprechung geworden. Damit ist die Konfusion perfekt. Ohne Karlsruhe kommen wir da nicht wieder hinaus. Dafür ist dieser Fall weltanschaulich und politisch zu vermint. -------------------------------------------------- Der Publizist und Autor Mathias Brodkorb, Jahrgang 1977, ist Kolumnist des Monatsmagazins «Cicero». Anfang des Monats legte er mit dem im Zu-Klampen-Verlag erschienenen Buch «Gesinnungspolizei im Rechtsstaat?» eine scharfe Kritik am deutschen Verfassungsschutz vor. Darin wirft er der Behörde vor, Erfüllungsgehilfin der Politik zu sein. Von 2011 bis 2019 war Brodkorb erst Kultus-, dann Finanzminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Brodkorb ist Mitglied der SPD.
Das Interview erschien in der NZZ |