Während die Grenzstadt Kobani heiß umkämpft ist, schauen türkische Soldaten wenige Hundert Meter entfernt zu. Von der Grenze hört man Schreie und das unaufhörliche Knattern der Maschinengewehre. Es ist ein tiefes, lautes Rauschen, das den nächsten Angriff eines Kampfflugzeuges ankündigt. Am blauen Himmel ist die Maschine deutlich zu erkennen, wie sie einen weiten Kreis zieht. Dann ist es nur mehr eine Frage von Sekunden, bis die Bombe mit einem tiefen Donnerhall einschlägt. Es folgt ein riesiger schwarzer Rauchpilz, der weit nach oben aufsteigt. Der Luftangriff hat eine Stellung des "Islamischen Staats" (IS) in Syrien getroffen. Beinahe im Minutentakt fallen die Bomben auf die Terrormiliz, die die Grenzstadt Kobani mit allen Mitteln erobern will.
Am 15. September starteten die Islamisten eine Offensive, nun sind sie ins Stadtzentrum vorgerückt. "Ohne die Luftunterstützung der internationalen Koalition könnten wir die Stadt nicht halten", gibt Mahmud Beschar, der Regierungssprecher der autonomen Regierung in Kobani zu. So bedrohlich die Lage auch ist, von einer Eroberung der Stadt will der Regierungssprecher nichts wissen: "Kobani wird nie in die Hände der Terroristen fallen." Sollte es trotzdem passieren, wäre ein unvorstellbares Blutbad die Folge. "Abgesehen von den kurdischen Kämpfern gibt es noch 700 Zivilisten in der Stadt sowie rund 12.000 Menschen, die am Grenzzaun campieren", sagte Staffan de Mistura, der Gesandte der Vereinten Nationen. "Sie alle würden sehr wahrscheinlich massakriert werden."
Von der Grenze aus kann man deutlich die Wohnhäuser und Straßen der seit Wochen umkämpften Stadt sehen. An manchen Stellen sind es nicht einmal 250 Meter, die die Todeszone in Syrien von der sicheren türkischen Seite trennen. Man hört verzweifelte Schreie, das unaufhörliche Knattern von Maschinengewehren, das dumpfe Grollen von Panzergranaten. Mit bloßem Auge ist das Mündungsfeuer der Flugabwehrgeschütze zu erkennen. Nach den Bombenangriffen der Kampfjets bebt der Boden unter den Füßen. Danach kommt der Rauch und der Gestank von verbranntem Material.
"Statt zu helfen, liegen die Türken hier herum"
Müde liegen türkische Soldaten in einem Weiler an der Grenze im Gras und ziehen gelangweilt an ihren Zigaretten. Die Schutzwesten und Helme haben die jungen Männer bei knapp 30 Grad im Schatten längst abgelegt. Vom Kampfgetümmel auf der anderen Seite lassen sie sich nicht im Geringsten stören. Dösend schlagen die Soldaten einfach die Zeit tot bis zur nächsten Wachablösung. "Das ist völlig krass hier", sagt Servan, ein deutscher Sympathisant der kurdischen Partei mit dem Namen Demokratische Einheit (PYD), deren Milizen in Kobani gegen die radikalen Islamisten kämpfen. "Statt zu helfen, liegen die Türken hier herum, während auf der anderen Seite die Menschen abgeschlachtet werden." Servan ist mit seinen zwei Freunden Cesur und Bercir aus Münster und Bielefeld ins Grenzgebiet gereist. Sie haben eine Woche Urlaub genommen, um mit Spendengeld aus Deutschland kurdischen Flüchtlingen zu helfen. "Die Türken machen eh gemeinsame Sache mit dem IS", sind Bercin und Cesur überzeugt. Diesen Vorwurf bekommt man von kurdischer Seite immer wieder zu hören.
Die Wut der Menschen ist nachvollziehbar. Das blutige Drama in Kobani eskaliert von Tag zu Tag. 200.000 Flüchtlinge leben im Elend, nachdem sie aus panischer Angst vor den marodierenden Horden des IS Heim und Herd verlassen haben. An der Grenze stehen die Panzer der türkischen Armee, die ihre Rohre nach Syrien gerichtet haben, bisher aber nicht einen einzigen Schuss abgaben. IS-Kämpfer und ihre Militärfahrzeuge sind auf der anderen Seite leicht auszumachen. Das türkische Parlament hatte in einer Regierungsabstimmung die Genehmigung für ein militärisches Eingreifen in Syrien gegeben. "Aber die machen nichts, gar nichts", sagt Cesur, einer der drei deutschen Aktivisten. "Die lassen die Kurden einfach sterben."
Jeden Tag soll es IS-Hilfslieferungen geben
In der türkischen Stadt Urfa, die etwa eine Fahrtstunde von der syrischen Grenze entfernt liegt, soll es mehrere Unterkünfte für IS-Kämpfer geben. "Natürlich stimmt das", bestätigt Mehmed Killic, ein lokaler Journalist. "Es sind sieben oder acht Häuser, in denen bis zu 120 Islamisten untergebracht sind. Das sind sichere Rückzugsorte oder auch Durchgangsstationen für neue Kämpfer." Alle Gebäude seien streng abgeschirmt, mit Zäunen, Mauern und Wachen. Tagsüber gehe niemand aus dem Haus. Generell wolle man jede Aufmerksamkeit vermeiden. Bisher konnte Killic die Besitzer von nur zwei der Gebäude ausmachen. Es sind Moscheevereine.
"Alle Männer in diesen Häusern tragen diese Islamisten-Bärte und lange pakistanische oder afghanische Hemden", sagt Killic. Vor zwei Jahren habe es noch keine große Geheimhaltung gegeben. "Damals liefen die Al-Qaida-Leute, die zu Dschabhat al-Nusra nach Syrien gingen, offen in der Stadt herum", erinnert sich der Journalist aus Urfa. Vor einem Jahr habe sich dann alles geändert, als der IS aufgetaucht war und für Furore sorgte. "Ich gebe Ihnen auch die Adresse eines Krankenhauses, in denen Verwundete der Terrorgruppe ständig behandelt werden", sagt er. Dort seien im Durchschnitt zwischen zehn bis 15 Kämpfer in Behandlung. Das Krankenhaus ist eine staatliche Einrichtung, fährt Killic fort. Damit sei doch wohl klar, dass die türkische Regierung mit im Bunde ist. "Jeden Tag gibt es auch Hilfslieferungen, die über die Grenze bei Tall Abyad gehen", fügt Killic an und nickt schmunzelnd.
Es sollen Lkw der Internationalen Humanitären Hilfe (IHH) sein, die über die Grenze direkt in IS-kontrolliertes Gebiet fahren. Killic wisse das aus sicherer Quelle, behauptet er. "Ich habe einen Verwandten, der bei denen arbeitet." Die IHH, die in Deutschland seit 2010 verboten ist, wird vom türkischen Staat subventioniert. Es ist kein Geheimnis, dass sie radikal-islamistisch ausgerichtet ist. Bekannt wurde die Organisation durch die "Solidaritätsflotte" mit Lieferungen für den Gazastreifen. Das türkische Schiff "Mavi Marmara" wurde von israelischen Spezialeinheiten geentert, mehrere Menschen starben. Für die drei deutschen Kurdenaktivisten ist das alles nichts Neues. "Uns muss über die Türkei niemand etwas erzählen", sagt Servan. "Wir wissen Bescheid, was für eine schmutzige Rolle sie spielt." Mit ihren 1100 Euro Spendengeldern aus Deutschland kaufen sie Kochtöpfe und Wasser. "Das wird am nötigsten gebraucht, hat man uns gesagt", sagt der 22-jährige Cesur. Die Kochtöpfe sollen in Flüchtlingslager auf der türkischen Seite der Grenze gehen, die Menschen, die sich aus Kobani dorthin retteten, als die Grenze noch offen war, konnten meist gar nichts mitnehmen. Verteilen wollen die Deutschen die Güter dort nicht selbst. "Wir machen das über eine lokale Organisation, damit das in geordneten Bahnen läuft."
Am Montag werden die drei zurück nach Deutschland fliegen, die Schlacht um Kobani aber wird weitergehen. Wie lange noch, hängt vor allem von den Luftschlägen der internationalen Koalition und vom Nachschub für die Kurdenmilizen ab. Sollte Kobani fallen, werden die IS-Kämpfer nicht ruhen und weitere Kurdengebiete angreifen. Ihre nächsten Ziele stehen bereits fest: Ras al-Ain, Kamischli und Hasakah – alles Orte in Grenznähe zur Türkei. Vielleicht werden die türkischen Soldaten irgendwann keine Zeit mehr haben, ruhig an ihren Zigaretten zu ziehen. |