Die Lage der Grünen ist ernst: Wen interessieren ihre Themen noch? Wer will etwas wissen über Energiewende, Steuergerechtigkeit, Umweltschutz? Die Republik debattiert aufgeregt über die Frage, wie es geschehen konnte, dass der grüne Spitzenkandidat Jürgen Trittin 1981 ein Kommunalwahlprogramm presserechtlich verantwortete, in dem gefordert wurde, gewaltlose sexuelle Handlungen mit Kindern zu legalisieren.
Straffreiheit für Kindersex: Diese historische Forderung drückt dem politischen Gegner einen Knüppel in die Hand, der gröber nicht sein könnte. Trittin müsse die Spitzenkandidatur ruhen lassen, drängt CSU-Generalsekretär Alexander Dobrindt. Gleiches verlangt der Chef der Jungen Union, Philipp Mißfelder. Was in dem grünen Programm gestanden habe, sei "absolut indiskutabel und abscheulich".
Diese Diskussion ist absurd. Das schreckliche Engagement der Grünen in Sachen "Pädophilie" liegt mehr als 30 Jahre zurück. Der Passus, der in Trittins Kommunalwahlprogramm stand, fand sich ebenso im Grundsatzprogramm - einer jungen, unreifen Partei, die sich vehement um die Öffnung der deutschen Gesellschaft und die Befreiung von ihren Tabus bemühte. Und dabei Fehler machte, die sie längst korrigiert und von denen sie sich eindeutig distanziert hat. Auch ein Jürgen Trittin. Noch in den achtziger Jahren ging die grüne Partei massiv gegen pädophile Positionen in ihren Reihen vor. Heute sind sie kein Thema mehr.
Die Grünen stellen sich ihrer Vergangenheit Jürgen Trittin ist kein Politiker, der sich exemplarisch für die Schuld und die Versäumnisse der deutschen Gesellschaft beim Kampf gegen Kindersex verurteilen ließe. Da wären die Kirchen schon viel eher zur Verantwortung zu ziehen. Trittin ist heute Spitzenkandidat einer Partei, die seit zwei Jahrzehnten beim Thema sexuelle Befreiung eine völlig eindeutige Linie verfolgt, in der Pädophilie nichts zu suchen hat. Sie hat sogar den Mut gefunden, die Parteiengeschichte in diesem Punkt wissenschaftlich durchforsten zu lassen. Sie stellt sich ihrer Vergangenheit!
Wenn sich das auch die anderen Parteien zumuteten, käme allerhand zutage. Man könnte Philipp Mißfelder fragen, warum er seinem Kanzler Helmut Kohl bis zum letzten Amtstag unkritisch die Treue gehalten hat, obwohl er es bis 1997 duldete, dass Vergewaltigung in der Ehe kein Straftatbestand war. Die CDU, eine Partei der Ultrasexisten? Man könnte die Liberalen fragen, warum sie mit angesehen haben, dass nach dem 2. Weltkrieg massiv Altnazis in die Partei einwanderten und sich Posten und Pöstchen besorgten. Die FDP, eine Partei der Ewiggestrigen? Man könnte die SPD fragen, wieso sie unter ihrem damaligen Vorsitzenden Oskar Lafontaine die deutsche Einheit abgelehnt hat. Die Sozialdemokraten, eine Partei der Vaterlandsverräter?
Im Wahlkampf sollte es um aktuelle Fragen gehen Es gibt in Politik und Gesellschaft nun einmal immer wieder Fragen, die in der Gegenwart anders beantwortet werden als in der Vergangenheit. Niemand, auch keine Partei, ist frei von historischen Fehltritten.
Eine Partei, die nie dazulernt, wie bei der NPD zu besichtigen, ist unwählbar. Den Grünen, die 209.000 Euro ausgeben, um die Fehler ihrer eigenen Vergangenheit erforschen zu lassen, ist Vertuschung nicht vorzuwerfen. Die anderen Parteien ziehen nachhaltiges Schweigen vor, statt sich zu bekennen. Das gestattet ihren Vertretern nicht, sich als moralische Scharfrichter aufzuspielen, wie es die Mißfelders und Dobrindts derzeit tun. Schon gar nicht in einem Wahlkampf, der sich mit den aktuellen politischen Fragen beschäftigen sollte.
Quelle: http://www.stern.de/politik/deutschland/...mut-ihr-nicht-2058484.html |