13% Armut - x% geistige Armut bei Statistikern.

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neuester Beitrag: 25.04.21 11:14
eröffnet am: 06.12.06 09:47 von: Rigomax Anzahl Beiträge: 102
neuester Beitrag: 25.04.21 11:14 von: Janadaloa Leser gesamt: 7837
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06.12.06 09:47
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8051 Postings, 7794 Tage Rigomax13% Armut - x% geistige Armut bei Statistikern.

Da gibt es also eine neue Statistik in der politischen Arena: 13% der Bevölkerung sei arm oder von Armut bedroht.

Was ist "arm oder von Armut bedroht"? Das haben die Statistiker mal eben so definiert: Wer weniger als 60% des Durchschnittseinkommens verdient (genauer: "zur Verfügung hat"), ist demnach arm oder von Armut bedroht. Was lehrt uns das über die Statistik und über das Denken der Statistiker?

1. Wenn alle Leute von heute auf morgen das Dreifache verdienen, sind immer noch 13% "arm oder von Armut bedroht".

2. Wenn 60% einer Bevölkerung 6.000 Euro im Jahr verdienen und 40% verdienen 15.000 Euro im Jahr, dann ist nach dieser Berechnungsmethode niemand "arm oder von Armut bedroht".

3. Wenn hingegen 30% einer Bevölkerung 20.000 Euro im Jahr verdienen und die anderen 70% verdienen 40.000 Euro im Jahr, dann sind 30% der Bevölkerung "arm oder von Armut bedroht".

Armut stelle ich mir anders vor. Eine sinnvolle Statistik auch.  

06.12.06 10:04
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50950 Postings, 7539 Tage SAKUEingeschränkte Zustimung, rheumax

Deine Punkte sind alle korrekt. Aber wenn ich mal ne Definition von Armut rausballern sollte so wäre es wohl die folgende (oder zumindest ähnlich):

Arm ist, wenn jemand keine oder kaum Möglichkeiten hat, ein Leben zu führen, das gewissen Standards entspricht. Die Maßstäbe für diese Standards sind örtlich und zeitlich unterschiedlich und können nur in einem Kulurkreis und in diesem ähnlichen Kulturkreisen bzw. in Regionen mit ähnlichen wirtschaftlichen Voraussetzungen verglichen werden.

Somit kann man nicht argumentieren, das der Hartz4 Empfänger in D nicht arm ist, weil der Aidskranke in Manila noch schlechter dran ist. Dann vergleichst du Äpfel mit Birnen und nicht nur einen "Kulturkreis" - und da sind die Möglichkeiten (mal chic Essen gehen, noch eben schnell nen Eis am Baggersee für die Familie, nen schöner Urlaub, ...) eben eingeschränkt, den "Normalos" gegenüber.

Dass wir weit von Hunger- und Dursttoten weg sind ist glücklicherweise der Fall. Aber so weit wollte ich es dann doch nicht kommen lassen.
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06.12.06 10:05

95441 Postings, 8590 Tage Happy EndNa na na, Rigomax

Natürlich ist die prozentuale Einteilung im Hinblick auf das Durchschnittseinkommen sinnvoll.

Deine Überlegung in absoluten Zahlen hingegen in keinster Weise.

Sonst wären die Deutschen bis 1923 immer reicher geworden...

 

06.12.06 10:14

50950 Postings, 7539 Tage SAKUups... sorry!!

Rigomax, nicht Rheumax!!!

Vllt sollte ich NOCH EINEN Kaffee trinken - tut mir leid, ihr zwei beiden *schäm*
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06.12.06 10:26

Clubmitglied, 50268 Postings, 8708 Tage vega2000Steht in der Stastik etwas darüber

wieviel von den 13% unter geistiger Armut leiden (also von den Mitarbeitern die diese Liste ausgearbeitet haben meine ich)?

Die Jungs im Bundesamt haben wohl Langeweile das sie so einen Blödsinn verzapfen. In München biste mit den genannten Zahlen schneller Arm, während du in MckPomm zu der gehobenen Mittelklasse gehörst. Das ganze dient doch nur dazu wieder eine Neiddebatte aufkommen zu lassen oder anders ausgedrückt:

Bullshit!  

06.12.06 10:36

12175 Postings, 8474 Tage Karlchen_IINun nicht über die Statistiker schimpfen.

Die rechnen - legen aber keine Definitionen fest. Die 60%-Grenze hat die EU festgelegt.
Im übrigen geht es nicht um das Durchschnittseinkommen, sondern um das mittlere Einkommen - was ein erheblicher Unterschied sein kann.


Am Rande: In der DDR gab es praktisch keine Armut. Und bei uns wächst die Armut, weil immer mehr studieren - und Studenten oft unter die Armutsgrenze fallen, was denen in der Regel aber wenig ausmacht.  

06.12.06 10:38
1

8051 Postings, 7794 Tage RigomaxHappy (#3): Lenk nicht ab.

Ich habe nicht von absoluten Zahlen in irgendeiner wertlosen Währung gesprochen, sondern von EURO. Für Dich nochmal aus #1:

"3. Wenn hingegen 30% einer Bevölkerung 20.000 Euro im Jahr verdienen und die anderen 70% verdienen 40.000 Euro im Jahr, dann sind 30% der Bevölkerung "arm oder von Armut bedroht"."

Für den von Dir abgebildeten 200 Mrd.-Schein konnte man sich in der "Blütezeit" der Inflation nicht einmal ein Brot kaufen. Die Zahl allein sagt also tatsächlich nichts aus, man muß auch berücksichtigen, was man sich dafür kaufen kann. Und das habe ich berücksichtigt. Von 20.000 Euro im Jahr kann man durchaus leben, ohne der Armut anheim zu fallen. Trotzdem würden diese Statistiker in dem genannten fiktiven Fall von 30% Armut sprechen.  

06.12.06 10:42
1

8051 Postings, 7794 Tage RigomaxOK, Karlchen - die Rechenknechte waren nicht

gemeint. Allerdings sollten die sich dann auch mal fragen, ob sie eine sinnvolle Arbeit verrichten. Und die, die die Vorgaben für die Rechenknechte machen, gehören für mich - mit Verlaub - auch zu den Statistikern.  

06.12.06 10:44

50950 Postings, 7539 Tage SAKU@rigo:

Und ich hab dir nen Verhältnis vorgelegt. Nix fiktiv, real.
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VIVA ARIVA  

06.12.06 10:48

129861 Postings, 7545 Tage kiiwiiRigomax hat vollkommen recht. Nach dieser Art

definitorischer Vorgaben kann Armut logischerweise nie verschwinden.
Was für eine Armut in Brüsseler Amtsstuben und hiesigen Medienköpfen.

.
.
MfG
kiiwii

P.S.: "Auch wenn alle einer Meinung sind, können alle Unrecht haben" (B.R.)
 

06.12.06 10:54
1

12175 Postings, 8474 Tage Karlchen_IINatürlich kann nach dieser Definition

Armut verschwinden - die Kurve der Einkommensverteilung muss nur hinreichend gestaucht sein - also: niemand hat weniger als 40% des mittleren Einkommens.  

06.12.06 10:55

95441 Postings, 8590 Tage Happy EndRigo (#7): Lenk nicht ab.

1. Wenn alle Leute von heute auf morgen das Dreifache verdienen, sind immer noch 13% "arm oder von Armut bedroht".

Eben.

Und dann gelten meine Ausführungen von oben, ob Du jetzt in EURO, Dollar oder Lire rechnest...
 

06.12.06 10:58

129861 Postings, 7545 Tage kiiwiiEin gestauchtes Bierchen gefällig ?


.
MfG
kiiwii

P.S.: "Auch wenn alle einer Meinung sind, können alle Unrecht haben" (B.R.)
 

06.12.06 11:00

12175 Postings, 8474 Tage Karlchen_IISorry - meinte 60%. o. T.

06.12.06 11:00

8051 Postings, 7794 Tage RigomaxSAKU: Darüber, was Armut ist, kann man sich

natürlich beliebig streiten. Um die von Dir in #2 gebrachten Beispiele weiter zu führen:
Ist man wirklich arm, wenn man nicht wenigstens einmal pro Woche chic essen gehen kann?
Ist man wirklich arm, wenn man sich nicht zweimal im Jahr einen Flugurlaub im Ausland für die ganze Familie leisten kann?

Mir ging es im wesentlichen um die Unsinnigkeit der Statistik: Danach ist niemand arm, wenn 60% nur 6000 EUR im Jahr verdienen, die anderen 40% aber 15000. Aber 30% sind angeblich arm, wenn sie  20000 EURo verdienen, die anderen aber 70000.

Nach dieser Statistik sind die Hirten in der Sahel-Zone vermutlich am wenigsten von Armut bedroht. Denn sie haben alle nichts und damit hat niemand weniger als 60% des Durchschnitts.  

06.12.06 11:11

8051 Postings, 7794 Tage RigomaxHappy (12): Natürlich ehrt es mich, wenn Du mich

zitierst. Aber ich würde doch darum bitten, daß Du einen von mir offenkundig ironisch-distanzierend gemeinten Satz nicht als eine von mir verkündete ewige Wahrheit in den Raum stellst.

Das von Dir gebrachte Zitat hätte ich wohl, damit auch Du es verstehst, mit dem Zusatz

"Nach dieser unsinnigen statistischen Methode würde sogar folgendes gelten: .... " ergänzen müssen.

Ich dachte allerdings, daß das _jeder_ verständige Leser das auch so begreifen würde. Die anderen haben es.

Nun ja. Du siehst - auch ich bin vor Irrtümern nicht gefeit. Das sollte Dir ein Trost sein ;-).  

06.12.06 11:14

95441 Postings, 8590 Tage Happy EndDu hast aber ungewollt

die Wahrheit ausgesprochen (auch wenn Du es selbst nur ironisch gemeint hast).  

06.12.06 11:19

95441 Postings, 8590 Tage Happy EndWenn Du allerdings tatsächlich meinst

dass etwa eine Verdreifachung aller Verdienste zu einer Reduzierung der Armut führen würde, dann...  

06.12.06 11:20

50950 Postings, 7539 Tage SAKU@rigo:

Darin hab ich dir uneingeschränkt Recht gegeben - daher hab ich mal nen Definitionsentwurf gebastelt ;o)

Die Ausprägungen sind natürlich "verhandelbar" (einmal die Woche Essen etc) - aebr im Kern bleibe ich bei meienr Aussage.
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VIVA ARIVA  

06.12.06 11:21

12175 Postings, 8474 Tage Karlchen_IIÜbrigens ist niemand arm, wenn

1/3 20.000 hat, ein weiteres 1/3 30.000 und das restliche Drittel hat 1. Mio.  

06.12.06 11:24

8051 Postings, 7794 Tage RigomaxKarlchen(11): Schon richtig. Wennn alle dasselbe

verdienen, ist nach dieser statistischen Definition niemand arm - ganz gleich wieviel er absolut verdient. Und eben das ist das Unsinnige an dieser statistischen Methode. Es hebt nur auf die Verteilung ab, nicht auf die absolute Einkommenshöhe und das, was man sich dafür kaufen kann.

Wenn alle verhungern, weil sie alle nichts verdienen, ist nach dieser statistischen Definition keiner arm gewesen.  

06.12.06 11:27

12175 Postings, 8474 Tage Karlchen_IIWie gesagt, auch in

Nordkorea gibts danach keine Armut.  

06.12.06 11:32
1

31082 Postings, 8326 Tage sportsstarArmut und Reichtum in der Wohlstandsgesellschaft

<!--StartFragment --> 

Armut und Reichtum in der deutschen Wohlstandsgesellschaft

Von Klaus Schroeder

 

In Zeiten kurzatmiger Kapitalismuskritik und gefühlter sozialer Kälte fällt der Blick auf den Wohlstand und seine Verteilung getrübt und verzerrt aus. Die zurückliegende öffentliche Debatte über den zweiten Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung ist hierfür ein typisches Beispiel.
Viele Kommentatoren, nicht nur linke Systemkritiker, die schon seit Jahrzehnten von einer Zwei-Drittel-Gesellschaft sprechen, sehen sich in ihren Vorurteilen bestätigt: Es gebe immer mehr Arme, die Schere zwischen Arm und Reich gehe ständig weiter auseinander und zunehmend würden soziale Gruppen vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen.
Doch der Schein trügt. Dieser Bericht und vor allem diverse ihm zugrunde liegende Gutachten dokumentieren eher das Gegenteil: Deutschland ist weiterhin ein reiches Land, in dem es den meisten Menschen, auch den als arm definierten, materiell
mehr oder weniger gut geht.
Noch reicht trotz Massenarbeitslosigkeit der erwirtschaftete Wohlstand, um die Lebenssituation fast aller zu verbessern oder auf dem gegebenen Niveau zu halten. So stieg zum Beispiel das Realeinkommen der „Armen“ zwischen 1998 und 2003 um 6% und damit nur etwas geringer als das der Beschäftigten (7%).

Die Diskussion um die Verteilung von Wohlstand und Armut ist auch deshalb so schwierig und verwirrend, weil es unterschiedliche Erhebungs- und Berechnungsmethoden gibt und vieles gar nicht erfasst werden kann. Da dieses Thema zudem hochgradig politisiert ist, mangelt es in der Debatte oftmals an Sachlichkeit und einem nüchternen, realistischen Blick.

Tabelle 1: Alternative Armuts- und Reichtumsgrenzen

Als arm gilt dem Bericht zufolge, wer weniger als 60% des mittleren Einkommens (Median) zur Verfügung hat. Im Jahre 2003 waren dies bezogen auf ganz Deutschland nach der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) für eine Person 938 Euro, was dem Monatslohn eines Vollzeitbeschäftigten entspricht, der 7,50 Euro pro Stunde verdient. Für eine Familie mit zwei Kindern über 14 Jahren begann die Armutszone unterhalb von 2.350 Euro. Nach diesem Kriterium galten 13,5% (1998: 12,1%) der Bevölkerung als arm. Doch angesichts der Höhe der Beträge fällt es schwer, von Armut zu reden. Mit Blick auf andere Teile der Welt wirkt eine solche Einschätzung fast zynisch und wird selbst einer Kennzeichnung als „relative Armut“ nicht gerecht. Realistischer wäre eine Bestimmung anhand der 40%- oder 50%-Grenze des Medians. Hiernach würde Armut unterhalb eines Einkommens von 626 Euro bzw. 782 Euro einsetzen; davon betroffen sind 1,9% bzw. 6,5% (bzw. nach dem SOEP 2,8% und 7,5%) der Bevölkerung. Die letztgenannten Beträge entsprechen in etwa den Sozialhilfe- und ALG II-Sätzen (vgl. unten Tabelle 1). Das Niveau der Armutsquote stieg im zweiten Armuts- und Reichtumsbericht auch deshalb an, weil die Berechnungsmethode verändert wurde. Nun werden nicht mehr 50% des durchschnittlichen Nettoäquivalenzeinkommens, sondern 60% des Median-Einkommens zur Bestimmung der Armutsgrenze genommen. Da gleichzeitig die ostdeutschen Haushalte nicht mehr am ostdeutschen, sondern am gesamtdeutschen Wohlstandsniveau gemessen werden, kletterte die Armutsrate noch zusätzlich in die Höhe. Beides zusammen führte zu einem Niveauanstieg der Armutsrate von über 2 Punkten.

Nehmen wir das gesamtdeutsche Wohlstandsniveau auch rückwirkend als Bezugspunkt, ist, was in dem Bericht nicht positiv herausgestrichen wird, die Armutsquote in Deutschland zwischen 1991 und 2003 von über 16% auf 13,5% gefallen.

Grafik 1: Entwicklung der relativen Einkommensarmut in Deutschland 1991-2003

Verwirrung stiftet auch die dynamische Entwicklung der Armutsgrenze: 1989 wurde in Westdeutschland jemand als arm eingestuft, der umgerechnet monatlich weniger als 340 Euro zur Verfügung hatte – heute sind es 974 Euro (vgl. Grafik 1). Dieser erstaunliche Anstieg der Armutsgrenze um 286% verdankt sich zu einem nicht unerheblichen Teil den nach politischen Gesichtspunkten bestimmten Berechnungsmethoden. Wie stark die „Armutsgrenze“ nach unterschiedlichen Berechnungsmethoden differiert, zeigt ein Vergleich mit dem nordrhein-westfälischen Sozialbericht, demzufolge Armut erst unterhalb von 604 Euro beginnt. Eine Kölner Alleinstehende zum Beispiel mit einem Einkommen von 900 Euro gilt dort nicht als arm, zieht sie jedoch nach Emden um, wird sie „arm“, obschon sich sogar ihre Kaufkraft aufgrund des unterschiedlichen Preisniveaus erhöht.

Diese Nichtberücksichtigung regionaler Unterschiede schmälert die Aussagekraft solcher Studien, denn es ist offenkundig, dass das Wohlstandsniveau nicht nur zwischen Ost und West auseinanderklafft.

Die deutlich höhere Armutsquote für Ostdeutschland (19,3%) resultiert vornehmlich aus der erstmalig vorgenommenen Bezugnahme auf das gesamtdeutsche Wohlstandsniveau. Nähme man das EU-Durchschnittseinkommen zum Maßstab, würde die Armutsquote deutlich sinken, ohne dass sich am Lebensstandard etwas ändert; insoweit ist Armut tatsächlich relativ. Für Deutschland insgesamt wäre es sinnvoll, die Einkommensverteilung immer regional zu betrachten, denn was zum Beispiel in München oder Stuttgart nur knapp zum Leben reicht, sichert in Ostfriesland oder Ostbrandenburg ein angemessenes Auskommen. Selbst zwischen Bremen und Niedersachsen klafft eine Wohlstandslücke von knapp 20%.

Grafik 2: Nettoäquivalenzeinkommen in Euro/Monat (Median) und Armutsrisikogrenze (60% des Medians), 1998 und 2003

In vielen Zeitungsartikeln werden unterschiedliche Beträge und Berechnungsmethoden munter durcheinander gewirbelt, um das jeweils gewünschte Bild zu erhalten. Auch selbsternannte Fachleute verlieren in diesem Zahlendschungel den Überblick. So schreibt die ehemalige DDR- Wirtschaftsministerin und jetzige so genannte Wirtschaftsexpertin der PDS, Christa Luft, in einem Artikel für das Neue Deutschland im Januar 2005 fälschlich, dass die Armutsberechnung von der Hälfte des Durchschnittseinkommens ausgehe. Dieses liege bei Alleinlebenden bei monatlich 600 Euro, bei einer Familie bei 1.177 Euro. Die Expertin behauptet nun: „Etwa jeder vierte private Haushalt muss im Bundesdurchschnitt mit weniger auskommen, in Berlin sogar fast jeder dritte.“ Für besonders skandalträchtig hält Christa Luft die Tatsache, dass „ein Zehntel der Privathaushalte aktuell die Hälfte des Geldvermögens hält.“

Ein anderes Problem der Armutsbestimmung ist die Erhebungsmethode, die auf Selbstauskunft beruht. So bleiben zumeist Einkünfte aus Schwarzarbeit, finanzielle Zuwendungen von Verwandten oder Partnern, Vermögen oder geldwerte Sachleistungen des Staates außer Betracht. Allein im Bereich der Schattenwirtschaft werden jähr-
lich etwa 350 Mrd. Euro umgesetzt, was knapp 16% des Bruttosozialprodukts entspricht: Auf vier bis fünf regulär Beschäftigte kommt laut Schneider ein Schwarzarbeiter. Dies wirkt sich nicht nur negativ auf die Steuer- und Sozialbeitragseinnahmen aus, sondern erhöht auch den Lebensstandard vieler Personen gerade aus dem unteren Einkommensbereich. Einen freilich spekulativen Hinweis hierauf liefern die Selbstauskünfte zu den Haushaltsausgaben, die für die unteren Einkommensgruppen im Osten wie im Westen deutlich über den angegebenen Einnahmen liegen.

Der Grauschleier über der Verteilung der Ressourcen in der Schattenwirtschaft wird indes wohl nicht zu lüften sein, so dass die Lebenserfahrung vieler Menschen auch weiterhin nicht mit den offiziellen Zahlen zu Armut und Niedrigeinkommen übereinstimmen wird.

Eine Möglichkeit, dem Stand der tatsächlichen Armut doch näherzukommen und nicht ein momentanes Niedrigeinkommen mit Armut statisch gleichzusetzen, bietet der Lebensstandardansatz. Hier werden die Ausstattung der Haushalte mit langlebigen Gütern sowie die jeweiligen Bildungs- und Freizeitaktivitäten, Sozialkontakte etc. betrachtet. Die Armutsquote beträgt demnach 4% im Westen und 6 % im Osten und damit weniger als 1998 (5%/9%). Nach diesem Ansatz wäre ebenso wie bei der tradierten Ermittlung die Armutsquote in der DDR der späten achtziger Jahre um ein Vielfaches höher ausgefallen. So gesehen hat die Armut nach der Vereinigung nicht zu-, sondern abgenommen. Bei einer gesamtdeutschen Betrachtung hätte die Armutspopulation eine breite Mehrheit der DDR-Bevölkerung umfasst.

Eine DDR-Familie mit zwei Kindern und einem durchschnittlichen Haushaltseinkommen besaß in den achtziger Jahren in etwa die gleiche Kaufkraft wie eine gleich große Familie in einer westdeutschen Großstadt, die Sozialhilfe bezog.

Weniger Ungleichheit bedeutet keineswegs automatisch mehr Wohlstand für die unteren Schichten, eher im Gegenteil: Gerade der Vergleich zwischen BRD und DDR zeigt, dass in der etwas ungleicheren bundesdeutschen Gesellschaft selbst die unteren sozialen Schichten in einem höheren Wohlstand lebten als die meisten Haushalte in der DDR. Der Sozialphilosoph John Rawls hält Ungleichheit dann für gerechtfertigt, wenn es gerade den unteren sozialen Schichten materiell besser geht als in einer weniger ungleichen Gesellschaft. Nähme die Bundesregierung ihren eigenen Bericht ernst, müsste sie die Regelsätze für Sozialhilfe und Arbeitslosengeld II über das selbst definierte Armutsniveau erhöhen. Sollte jedoch die Sozialhilfe schon ein menschenwürdiges Leben – wenngleich auf minimalem Niveau – sichern, dann dürfte die Armutsgrenze nicht bei 60% des Einkommensmedians festgelegt werden. Dieser Widerspruch lässt sich immanent auch nicht in der Proklamation eines mehrdimensionalen Armutsbegriffs auflösen.

Noch abwegiger ist die regierungsoffizielle Kennzeichnung der Armutsgrenze bei 938 Euro Nettoäquivalenzeinkommen, wenn man berücksichtigt, dass hiervon weit überdurchschnittlich Spätaussiedler und Ausländer betroffen sind. Seit 1990 kamen etwa 6 Millionen Ausländer und Spätaussiedler nach Deutschland, zum größten Teil aus Ländern, in denen bittere Armut herrschte. Sie erleben durch das soziale Netz in Deutschland innerhalb kürzester Zeit einen Wohlstandssprung, werden aber gleichzeitig als „arm“ eingestuft. Gemessen an ihrer Ausgangssituation handelt es sich um eine „privilegierte Armut“. Vielen von ihnen gelingt es indes ebenso wie den meisten Einheimischen, nach einigen Jahren diese Armutszone wieder zu verlassen. Gleichwohl sind Migranten nicht zuletzt aufgrund jahrzehntelanger unzureichender Integration und ihrer sozialen Zusammensetzung überdurchschnittlich häufig und länger von Armut betroffen, unabhängig davon, bei welchem Level die Armutsgrenze festgelegt wird.

Neben Zuwanderern sind vor allem Langzeitarbeitslose und Alleinerziehende stärker mit Armut konfrontiert. Zumindest für viele Alleinerziehende dürften jedoch die Bestimmungen des ALG II und die seit Anfang des Jahres geltenden Kinderzuschläge für Niedrigeinkommensbezieher einen Ausstieg aus der Armutszone bedeuten.

Grafik 3: Armutsrisikoquoten ausgewählter Bevölkerungsgruppen (in Prozent, Stand 2003)

Deutlich schlechter sind die Aussichten für die steigende Zahl von Langzeitarbeitslosen, wenn zukünftig nicht mehr Arbeitsplätze geschaffen werden. Die weitere Sicherung eines einmal erreichten Wohlstandsniveaus für fünf Millionen Arbeitslose überfordert mittel- und langfristig selbst ein wohlhabendes Land wie Deutschland. Da jedoch viele Arbeitslose allenfalls im Niedriglohnsektor Beschäftigung finden werden, ist mit der Schaffung von Arbeitsplätzen nicht automatisch eine spürbare Verbesserung des Wohlstandsniveaus verbunden. Solange der Abstand zwischen den Niedriglohnsektoren und den Sozialeinkommen nicht breiter wird, gibt es zudem wenig Anreize zur Arbeitsaufnahme. Realistisch betrachtet werden sich zumal unter Bedingungen globalen Wettbewerbs die Markteinkommen für niedrig qualifizierte Beschäftigte nicht weit oberhalb der offiziellen Armutszone bewegen.

Andere soziale Gruppen wie Vollzeitbeschäftigte, Rentner und Pensionäre oder auch Selbstständige sind seltener arm als der Durchschnitt.

Wieder andere, wie zum Beispiel die 16-24-Jährigen, befinden sich zumeist nur vorübergehend in der Armutszone. Studenten, Auszubildende und berufstätige junge Leute als arm zu bezeichnen, geht freilich noch stärker als bei anderen an der subjektiven Lebenssituation vorbei. Besonderes Augenmerk sollte denen gelten, die dauerhaft arm bleiben und sich aus eigener Kraft nicht hieraus lösen können. Den meisten von Armut Betroffenen gelingt es indes, schon recht schnell materiell wieder aufzusteigen. Etwa jeder Zweite verlässt die Armutszone nach einem Jahr, ein weiteres Drittel nach zwei oder drei Jahren. Nur wenige verbleiben dauerhaft im unteren Einkommensbereich.

Entgegen dem verbreiteten Schlagwort vom „Armutsrisiko Kind“ sind Familien mit Kindern nicht überproportional arm, im Gegenteil:

Ihre Einkommensposition liegt oberhalb des Durchschnitts und nur zumeist junge Paare mit einem Kleinkind, wo sich darüber hinaus vielleicht ein oder beide Elternteile noch in der Ausbildung befinden, sind häufiger „arm“. Die meisten Kinder, die der Armutszone zugerechnet werden, werden nur von einem Elternteil erzogen oder leben in Migrantenfamilien (vgl. Grafik 3). Letztere haben eine etwa doppelt so hohe Kinderzahl wie Einheimische. Nicht erforscht ist auch, ob erst nach der Geburt von Kindern Familien in die Armutszone rutschen, oder ob die Eltern bzw. Mütter nicht schon vorher arm waren.
Jenseits der immer schon vorhandenen Einkommensmobilität, die zu Auf- und Abstiegen zwischen den verschiedenen Einkommensklassen führte, stehen die Mittelschichten – anders als oftmals in den Medien und der Wissenschaft unterstellt – nicht unter besonderem Druck. Allerdings dürfte die Einführung des ALG II mittlere und höhere Einkommensgruppen zumindest potenziell besonders hart treffen, da sie nach einjähriger Arbeitslosigkeit starke materielle Verluste hinnehmen müssen. Der abzusehende soziale Abstieg von Teilen der Mittelschicht ist insoweit Resultat rot-grüner Sozialpolitik. Diese „Politik gegen die Mitte“ lässt sich auch in anderen Bereichen beobachten, so etwa in der Rentenpolitik und bei der Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze.

Auch das Vorurteil, die Armen würden immer ärmer, die Reichen dagegen ständig reicher, trifft nicht zu.

Die relative Armutslücke, d.h. der Abstand zwischen dem durchschnittlichen Einkommen der Armutspopulation und der jeweiligen Armutsgrenze, hat sich in den letzten Jahren nicht wesentlich vergrößert und im untersten Bereich sogar verringert.

Grafik 4: Entwicklung der Einkommenskonzentration (Gini-Index)
1 Bedarfsgewichtetes Haushaltsnettoeinkommen (neue OECD Skala); 1990 Ost berechnet auf der Basis von DDR-Mark Datenbasis: SOEP
( Quelle: ZUMA - Soziale Indikatoren)

Trotz aller Polemiken gegen Neoliberalismus und entfesselten Kapitalismus ist die Ungleichheit der Einkommensverteilung in Deutschland langfristig weitgehend stabil geblieben; im internationalen Vergleich fällt sie zudem eher gering aus. In Westdeutschland verläuft die Entwicklung unter kleinen Schwankungen seit Mitte der achtziger Jahre auf etwa gleichem Niveau, in den letzten Jahren indes mit leicht steigender Tendenz. Anders in Ostdeutschland: Hier wird die Verteilung seit der Vereinigung nahezu kontinuierlich „ungleicher“, auch wenn das westdeutsche Niveau noch nicht erreicht ist (vgl. Grafik 4). Im europäischen Vergleich liegt Deutschland in der Einkommensungleichheit unterhalb des EU-Durchschnitts und zusammen mit den skandinavischen Ländern am unteren Ende der Ungleichheitsrangliste (vgl. Grafik 5).
Die im mittelfristigen Verlauf relativ stabile Einkommensverteilung verdankt sich vor allem dem konstant hohen staatlichen Umverteilungsgrad.

Grafik 5: Einkommenskonzentration (Gini-Index) im europäischen Vergleich (EU-15) 2001

Auch die Relation zwischen dem einkommensreichsten und dem untersten Zehntel wurde trotz der millionenfachen Zuwanderung und der Massenarbeitslosigkeit weitgehend stabil gehalten.

In den letzten fünf Jahren verschob sich allerdings die Relation leicht zugunsten der oberen Einkommensgruppen. Ob sich hiermit ein Trendwechsel anbahnt oder sich nur die typischen Schwankungen im langfristigen Verlauf ausprägen, kann derzeit nicht beurteilt werden. Auch darüber, wie sich die Bestimmungen des ALG II auf die Einkommensverteilung auswirken, kann vorerst nur spekuliert werden. Die erheblich höher als geplant ausfallenden Kosten deuten jedoch darauf hin, dass die Bezieher jedenfalls im Durchschnitt keine materiellen Einbußen hinnehmen müssen.

Grafik 6: Entwicklung der Einkommensanteile der ärmsten und reichsten 10% der Bevölkerung in Deutschland1

Generell wird, um mit einer beliebten Legende aufzuräumen, nicht von unten nach oben umverteilt, sondern nach wie vor von oben bzw. von der Mitte nach unten. So zahlen zum Beispiel das obere Fünftel der Steuerpflichtigen knapp 70% der Einkommenssteuern und die untere Hälfte der Steuerpflichtigen nicht einmal 10% (vgl. Grafik 6).

Welche Gruppen welchen Anteil an den Einnahmen der Sozialkassen aufbringen, ist leider nicht bekannt, aber auch hier dürfte eine analoge, wenngleich deutlich abgeflachte Verteilung vorliegen. Da die Zahl der von Umverteilung Profitierenden angesichts der anhaltenden Arbeitslosigkeit und vor allem der Verfestigung von Langzeitarbeitslosigkeit ansteigt, mag der Einzelne weniger erhalten; in der Summe steigt die Umverteilung jedoch stetig an. So lagen im Jahre 2003 die Sozialleistungen pro Kopf bei etwa 8.500 Euro gegenüber etwa 5.300 Euro im Jahre 1991.

Grafik 7: Anteile am Äquivalenzeinkommen nach Dezilen der Bevölkerung (Stand 2003, in Prozent)

Das einkommensstärkste Fünftel der Bevölkerung verfügt vor Steuern und Sozialabgaben über 47,3% der Gesamteinkünfte, netto verringert sich sein Anteil auf 35,4%, während das untere Fünftel netto 9,7% statt 0,9% erhält. In Ostdeutschland ist die Schere zwischen Markt- und Nettoeinkommen noch ausgeprägter (vgl. Grafik 7). Hier haben Sozialtransfers inzwischen einen Anteil von 40% der Einkommen (West: 25%). Nach Berechnungen des IAB erreicht der Transfer für Sozialeinkommen mit gut 78 Mrd. Euro das Niveau der Nettolohnsumme. Dieser hohe Transferanteil am Haushaltseinkommen wird nur zum Teil von den ostdeutschen Beitragszahlern aufgebracht. Nach Berechnungen des DIW betrug im Jahre 2002 in den neuen Ländern die Differenz zwischen den Transferzahlungen und den gezahlten Einkommenssteuern und Sozialbeiträgen minus 2.300 Euro je Haushalt. Ostdeutschland hängt entgegen der hoffnungsfrohen Erwartungen unmittelbar nach der Vereinigung nicht immer weniger, sondern immer stärker am Transfertropf, weil es dort relativ weniger Bezieher von Erwerbseinkommen gibt. Alle Haushalte gleich welcher Natur profitieren stärker vom Steuer- und Sozialsystem als vergleichbare westliche.

Grafik 8: Armutsrisikoquoten vor und nach sozialstaatlicher Umverteilung 1998 und 2003

Wann Reichtum unterhalb der wenigen wirklich Reichen wie der Vorstandsvorsitzenden von Dax-Unternehmen, Formel 1-Rennfahrer Michael Schumacher oder Fernsehentertainer Thomas Gottschalk beginnt, lässt sich ebenfalls nur willkürlich festlegen. Analog zur Armutsbestimmung wird zumeist eine Reichtumszone von mehr als 200% des gewichteten Nettohaushaltseinkommens genommen, was 2003 knapp 3.500 Euro ausmachte. Oberhalb dieser Grenze lagen im Jahr 2003 4,4% der Bevölkerung. Eine weitere Reichtumsgrenze wird oberhalb eines 300%-Einkommens (5.220 Euro) gezogen: Knapp 1% gehörten dazu (vgl. Tabelle 1). Zwischen 1998 und 2003 ist der Bevölkerungsanteil in den beiden Reichtumspopulationen in etwa gleich geblieben. Im Verhältnis zu den ärmsten sind die reichsten 10% nicht reicher geworden; sie verfügen auch weiterhin über etwas mehr als das Fünffache.

Die obersten 1% haben im Vergleich zu den untersten 1% sogar etwas verloren (vom gut 16-fachen auf das knapp 14-fache).

Jenseits der Frage, ob bei dieser Einkommenshöhe schon von Reichtum gesprochen werden kann, überrascht doch die geringe Zahl von Haushalten, die angeben, dieses Niveau zu erreichen. Generell scheinen in Deutschland Armut und Reichtum gleichermaßen zumindest in ihrer Verbreitung überschätzt zu werden. Nimmt man indessen die Reichtumsgrenze ernst, gehören entgegen landläufiger Vorurteile Familien mit Kindern eher zu den Reichen als zu den Armen. Das Statistische Bundesamt ermittelte jüngst ein durchschnittliches monatliches Haushaltsnettoeinkommen für Familien von etwa 3.750 Euro. Selbst die immer wieder als Beispiel für mangelnde soziale Gerechtigkeit angeführte Vermögensverteilung stellt sich bei genauerem Hinsehen anders dar als zumeist öffentlich wahrgenommen. Zwar gibt es eine kleine Gruppe von wirklich Reichen und Armen, aber die breite Masse liegt dichter beisammen als unterstellt.

Tabelle 2: Kapitalisierte Ansprüche an die gesetzliche Rentenversicherung und materielle Nettovermögen im Vergleich (Stand 2002; in Tsd. Euro)

Da die vornehmlich in den Rentenkassen angehäuften kapitalisierten Ansprüche – anders als die bei Kapitallebensversicherungen – nicht berücksichtigt werden, entsteht ein schiefes Bild.

Nach Berechnungen des ZEW liegt das mittlere kapitalisierte Nettovermögen der GRV-Versicherten bei rund 105.000 Euro für Männer und 98.000 Euro für Frauen. Insgesamt dürften die Bargeldansprüche in der gesetzlichen Rentenversicherung unter jetzigen Bedingungen bei über 5 Billionen Euro und damit deutlich über dem gesamten Bruttogeldvermögen (3,6 Billionen Euro) liegen. Werden diese „Sozialvermögen“ in die Vermögensrechnung miteinbezogen, fällt die Verteilung zwischen oben und unten, zwischen Selbstständigen und Arbeitnehmern, und vor allem zwischen Ost und West wesentlich gleichmäßiger aus.

Tabelle 3: Spareinlagen in der DDR 1984

Durch die Übertragung des bundesdeutschen Rentensystems auf die Bevölkerung der neuen Länder entstanden hier als Folge der Sozialunion gleichsam über Nacht aufgrund der längeren Lebensarbeitszeiten kapitalisierte Ansprüche an die GRV in beträchtlicher Höhe ungeachtet der vergleichsweise deutlich niedrigeren Beiträge in der DDR.

Während sie bei den Männern, je nach Alter, in etwa auf der Höhe des westdeutschen Niveaus liegen, verfügen die ostdeutschen Frauen über deutlich höhere Ansprüche als ihre westlichen Geschlechtsgenossinnen. Um diese Renten ohne staatliche Zuschüsse und westliche Sozialtransfers finanzieren zu können, müssten die Rentenversicherungsbeiträge ostdeutscher Arbeitnehmer derzeit kapp 50% betragen.

Betrachten wir nur das Nettoimmobilien- und -geldvermögen, erreicht die ostdeutsche Bevölkerung im Durchschnitt nur etwa 40-50% des westdeutschen Niveaus, werden die „Sozialvermögen“ einbezogen, kommen zum Beispiel die 30-59jährigen ostdeutschen Männer auf knapp 70% und die gleichaltrigen ostdeutschen Frauen auf knapp 94%. Insgesamt dürften ostdeutsche Haushalte überschlägig geschätzt inzwischen 80% des westdeutschen Vermögensniveaus erreicht haben. Die schnelle Übertragung des westdeutschen Sozialsystems hat insoweit zu einer deutlichen Angleichung der systembedingt stark polarisierten sonstigen Vermögensbestände geführt.

Eine öffentliche Kenntnisnahme dieser Relationen könnte die oftmals erregt geführte Diskussion um die Vermögensschere zwischen Ost und West weitgehend entschärfen.

Die Berücksichtigung kapitalisierter Ansprüche an die GRV verändert aber auch die Vermögensdisparitäten zwischen Selbstständigen- und Arbeitnehmerhaushalten. Letztere besaßen 2003 durchschnittlich ein Nettovermögen von 120.000 Euro gegenüber knapp 300.000 Euro bei den Selbstständigen. Um lebenslang eine Rente auf dem derzeitigen Durchschnittsniveau von knapp über 1.000 Euro beziehen zu können, müsste ein männlicher Selbstständiger gut 200.000 Euro zum Rentenbeginn angespart haben.

Tabelle 4: Schichtung nach Einkommensdezilen in der DDR

Erstaunlicherweise entspricht die derzeitige Ungleichverteilung der Geldvermögen in etwa derjenigen in der DDR Mitte der achtziger Jahre. Entfällt heute, was Christa Luft monierte, auf das oberste Zehntel der Haushalte etwa die Hälfte des Nettogeldvermögens, besaßen in der DDR 8,2 % der Kontoinhaber knapp 50% des Guthabens. Die Einkommen waren in der DDR ebenfalls wesentlich ungleicher verteilt, als es ein nostalgisch verklärter Rückblick wahrnimmt, wenn auch etwas geringer als in der Bundesrepublik. 1988 betrug zum Beispiel das Verhältnis zwischen dem obersten und dem untersten Haushaltseinkommensdezil das 4,33-fache. Sollte es sich bei der DDR, um auf eine aktuelle Debatte Bezug zu nehmen, um ein System des „Raubtiersozialismus“ gehandelt haben?

Der genauere Blick auf die Daten und Zusammenhänge zeigt entgegen weit verbreiteter Vorurteile ein weiterhin reiches Land, in dem wirkliche Armut nur gering ausgeprägt ist, in dem die Einkommens- und Vermögensverteilung zwar ungleich, aber im internationalen Vergleich doch stark abgeflacht ausfällt, und trotz andauernder Massenarbeitslosigkeit ein hohes Wohlstandsniveau auch für weite Kreise der Bevölkerung noch vorhanden ist.

Allerdings sind erste Risse am Wohlstandsfundament erkennbar. Falls es in den nächsten Jahren nicht gelingt, die Arbeitslosigkeit deutlich zu senken und die Finanzierung der Vereinigung vorrangig über die Sozialsysteme zu verändern, werden Wohlstandsverluste auf breiter Front nicht mehr zu verhindern sein. Wie erklärt sich nun die gravierende Fehlinterpretation des Armuts- und Reichtumsberichts? Zum einen war es Ziel der Regierung Schröder weitere Umverteilungsmaßnahmen mit dem Hinweis auf vermeintlich gestiegene Armut legitimieren, zum anderen versuchte die Opposition, die Regierung hierfür verantwortlich zu machen. So gerät die tatsächliche Wohlstandslage aus dem Blick.

Deutschland wird arm geredet. Besorgniserregend ist nämlich nicht das Wohlstandsniveau, sondern die weiterhin ansteigende staatliche Umverteilung in Deutschland. Hierdurch wird der wirtschaftliche Wachstumsmotor blockiert und die Arbeitslosigkeit verfestigt.

Anders als gemeinhin angenommen kann ein Mehr an materieller Ungleichheit und ein Weniger an staatlicher Umverteilung mehr Aufstiegschancen bringen. Die Diskussion sollte sich stärker auf die Chancengerechtigkeit konzentrieren. Das würde einen anderen Blick auf Verteilungsgerechtigkeit mit sich bringen. Die Unzulänglichkeiten einer nur auf die Verteilung materieller Ressourcen abzielenden Armuts- und Reichtumsbestimmung schienen auch der Bundesregierung bewusst zu sein: Sie begreift Armut und Reichtum darüber hinaus als Mangel bzw. Übermaß an Verwirklichungschancen. Dieses auf Amartya Sen zurückgehende Konzept bezieht politische Beteiligung, Mitbestimmung, Arbeitsmarktzugang oder Zugang zu Bildung und Gesundheitswesen in die Analyse mit ein. Damit wird der Armutsbegriff allerdings noch „weicher“, denn es wird sich kaum klären lassen, ob zum Beispiel die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft oder einer Partei, die Wahlbeteiligung oder ehrenamtliche Tätigkeiten vor allem von der materiellen Lebenssituation abhängen und ob dies ein Ausdruck von Armut oder Reichtum ist. Allein die Tatsache, dass einkommensschwache soziale Gruppen in den genannten Bereichen unterrepräsentiert sind, bedeutet noch lange nicht, dass sie sich bei einer verbesserten materiellen Situation entsprechend engagieren würden. Generell scheint mir im Regierungsbericht wie auch in den Beiträgen etwa des Historikers Paul Nolte, der sich dieses Themas wiederholt angenommen hat, Bedeutung und Ausmaß materieller Ungleichheit überschätzt und die kulturelle Dimension und Eigenständigkeit sozialer Gruppen unterschätzt zu werden. Jugendliche zum Beispiel splitten sich weniger sozial als subkulturell auf, wie man an der Musikrichtung, an der Kleidung und anderem unschwer erkennen kann. Schon seit geraumer Zeit werden jenseits materieller Verteilungsebenen soziale Milieus von Lebensstilen überlagert. Selbst die Distinktion durch Markenkleidung funktioniert nicht mehr, seit billige Plagiate überall erhältlich sind.

Wenn das Leitbild der Verbürgerlichung für die unteren sozialen Schichten schon seit geraumer Zeit keine Relevanz mehr hat, dann nicht, wie Nolte behauptet, weil es eine verfestigte Armutsschicht oder eine zunehmende Ungleichverteilung gibt, sondern weil im Gefolge der 68er Revolte diese Perspektive diskreditiert wurde und sich die soziale und kulturelle Zusammensetzung der Bevölkerung durch Millionen Migranten und Spätaussiedler verändert hat. Das kulturell proletarische Milieu füllte sich zudem nach der Vereinigung noch einmal erheblich auf. Die mehrfache soziale Unterschichtung der alten Bundesrepublik – erst moderat durch die Gastarbeiter, dann nachhaltig durch die Zuwanderer und schließlich durch die Vereinigung – hat das soziale Gefüge Deutschlands dauerhaft verändert mit erheblichen Folgen für die soziokulturellen Dimensionen.

Die heutige Unterschicht orientiert sich nicht mehr an kulturellen Standards der Mittelschichten, schon gar nicht die Migranten und Spätaussiedler unter ihnen. Die Dominanz der „bürgerlichen Kultur“ der achtziger Jahre dürfte historisch eher die Ausnahme als die Regel sein.

Und selbst damals existierten weitgehend abgetrennte kulturell eigenständige Unterschichten. Heute wird die kulturelle Verschiedenheit von Unter- und Mittelschichten vor allem über das Medium Fernsehen deutlich. Hier können sich diese Schichten erstmals in bestimmten Sendungen artikulieren und ihrem Selbstverständnis gerecht werden. Dies mag öffentlichen Meinungsträgern und Kritikern nicht gefallen, spiegelt aber die kulturelle Vielfalt der Gesellschaft wider.

Die Vorstellung sozialer Ausgrenzung, wie sie auch von der EU getragen wird, trifft insofern nicht den Kern der Problematik, zumal wenn große Teile der Unterschichten die gewünschten gesellschaftlichen Teilhabechancen gar nicht wahrnehmen wollen. Unklar bleibt, was „zentrale gesellschaftliche Aktivitäten“ sind. Letztlich wird hierdurch der Armutsbegriff immer weiter gedehnt, werden kulturelle Nivellierung und soziale Homogenisierung zum Ziel sozialstaatlicher Politik.

Dass die Wahrnehmung von Verwirklichungschancen auch vom individuellen Wollen abhängt und nicht nur von gesellschaftlichen Voraussetzungen, gerät dabei aus dem Blick.

Ob jemand zum Beispiel gesund oder ungesund lebt, zur Wahl geht, Gewerkschaftsmitglied wird etc., ist letztlich seine Entscheidung und lässt sich nicht mit Kategorien von „arm“ und „reich“ erklären. Die Gesellschaft kann nur Bedingungen schaffen, Lebenschancen müssen Individuen dagegen selbst wahrnehmen. Letztlich kann und sollte der Staat nur infrastrukturelle Voraussetzungen in Bildung und Ausbildung sowie materielle Mindeststandards garantieren. Beides ist in Deutschland weitgehend gegeben.



greetz
sports*
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Das Leben ist hart, doch Ariva ist härter..  

06.12.06 11:38

95441 Postings, 8590 Tage Happy Endx

Es handelt sich um zehn so genannte Primärindikatoren zur Erfassung der „wichtigsten Ursachen sozialer Ausgrenzung":

  1. • Armutsgefährdungsquote nach Sozialtransfers,
  2. • Ungleichheit der Einkommensverteilung (Einkommensquintilsverhältnis S80/S20),
  3. • Quote der dauerhaften Armutsgefährdung,
  4. • Relativer Medianwert der Armutsgefährdungslücke,
  5. • Regionaler Zusammenhalt,
  6. • Langzeitarbeitslosenquote,
  7. • in Arbeitslosenhaushalten lebende Personen,
  8. • nicht in Weiterbildung oder Berufsausbildung befindliche vorzeitige Schulabgänger,
  9. • Lebenserwartung bei Geburt,
  10. • Gesundheitswahrnehmung

 

und um acht Sekundärindikatoren, die andere Dimensionen von Ausgrenzung beschreiben:

  1. • Streuung der Armutsgefährdungsquote um den Schwellenwert von 60 % des Median-Einkommens,
  2. • Armutsgefährdungsquote bei zeitlicher Verankerung des Armutsgrenzwertes,
  3. • Armutsgefährdungsquote vor Sozialtransfers,
  4. • Gini-Koeffizient,
  5. • Quote der dauerhaften Armutsgefährdung,
  6. • Langzeitarbeitslosenquote,
  7. • sehr lange Arbeitslosigkeit,
  8. • Personen mit niedrigem Bildungsstand.
 

06.12.06 11:40
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23163 Postings, 6572 Tage Malko07Was sollen uns derartige

Statistiken sagen? Sollen sie die Jammerkultur stützen? Kann man daraus ein sinnvolles politisches Handeln ableiten? Ich kann mir es nicht vorstellen. Das einzige was ich daraus ableite, ist ein Mangel an Armen. Diejenigen die derartige Aufträge vergeben und diejenigen die sie ausführen sind überflüssig wie ein Kropf und gehören gefeuert und erhöhen dann den Anteil der Armen - oder tun sie ihn verringern?. Steuergelder kann man sinnvoller verwenden.  

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