"Freiheit, radikal!" von Silvana Koch-Mehrin
Guido Westerwelle ist Vizekanzler, Daniel Bahr sein Generalsekretär. Die Liberalen haben sich durchgesetzt – an fast allen Fronten. Deutschland im Jahr 2015: ein Blick nach Übermorgen
Nach der Verlängerung der Legislaturperiode auf fünf Jahre ist das Jahr 2015 ein Bundestagswahljahr. Aufsehen erregt das Sommerinterview des Ministers für Europa und Inneres Guido Westerwelle (53), das er Cicero im Familienurlaub mit seinem Lebensgefährten und den Kindern auf Mallorca gibt. Die Funktion des Ministers für Wissen und Forschung sei das wichtigste Ressort in der Bundesregierung, sagt er darin. Einige legen das als Amtsmüdigkeit aus.
Viel könne Guido Westerwelle auch nicht mehr erreichen, so die Kommentare der Journalisten, seitdem der langjährige Vizekanzler höchste Popularitätswerte genießt und dieser Aufschwung nunmehr sieben Jahre anhält.
Im Interview sagt Guido Westerwelle, dass der Aufschwung eigentlich schon 2006 begonnen habe. Die drei wichtigsten Maßnahmen hätten im ersten Jahr nach der Wahl stattgefunden: Als Erstes eine radikale Steuersenkung, des Weiteren die klare Kommunikation der Reformziele und darüber hinaus die Einführung von leistungsbezogenen Elementen bei den Diäten und eine Veränderung bei der Politikerversorgung.
Danach, so Westerwelle, sei alles viel einfacher geworden. Auch die anfänglich starken Proteste der Gewerkschaften hätten nicht die Reformen verändert, sondern am Ende viel stärker die Gewerkschaften selbst, die nur noch die Wahl gehabt hätten, in Bedeutungslosigkeit zu versinken oder sich zu modernisieren. Nach der erfolgreichen Bundestagswahl 2006 sei es eben gar nicht so sehr darum gegangen, für Reformen zu werben, sondern sie ohne innere Widersprüche konsequent durchzuführen. Eigentlich, so Westerwelle, seien die ersten zwei Jahre nach 2006 vergleichbar gewesen mit den ersten zwei Jahren von Willy Brandt mit „Mehr Demokratie wagen“. Nur lautete nun das Motto: „Mehr Marktwirtschaft wagen“.
Der liberale Minister für Generationengerechtigkeit Dirk Niebel, der materialisierte Traum aller Großmütter, hatte die Auswirkungen der demografischen Entwicklung Anfang des Jahrtausends schonungslos dargestellt: Mindestens eine Generation der erwerbstätigen Bevölkerung, konstatierte er nach dem Regierungswechsel, werde durch die Schuldender vorangegangenen Jahrgänge doppelt belastet.
Inzwischen sprachen alle Parteien über individuelle Verantwortung, doch allein die Freidemokraten hatten den Mut zur Realisierung: Seit dem Jahr 2007 ist in Deutschland jeder verpflichtet, sich privat zu versichern, für die Alters- und für die Gesundheitsvorsorge. Damit waren die notwendigen Voraussetzungen für die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands geschaffen. In einer inzwischen fast 600 Millionen Einwohner zählenden EU! Die überzeugende Politik der Liberalen im Europäischen Parlament führte zur Heimkehr von EU-Kommissar Günter Verheugen in die FDP. Und in den Koalitionsverhandlungen im Europaparlament wählte eine bürgerliche Mehrheit eine liberale Persönlichkeit in das Amt des EU-Präsidenten.
GUIDO WESTERWELLE wies in jenem Cicero-Interview auch Differenzen mit Bundeskanzlerin Angela Merkel (61) zurück. Man habe, so Westerwelle, ein sehr gutes persönliches Verhältnis. Er sei eben ein Frauentyp. Aber nicht nur. Dieses Interview-Zitat wurde auch als Signal an die SPD verstanden, die sich in der Opposition endlich modernisiert hatte – nicht zuletzt deutlich gemacht durch ihren spektakulären Austritt aus der Sozialistischen Internationalen. Ja, 2015 ist ein spannendes Wahljahr.
Die FDP tritt bei der Bundestagswahl 2015 mit der Botschaft „Freiheit, radikal“ an. Damit sollen die Wahlerfolge der vergangenen Jahre wiederholt werden. Der radikale Einsatz für Marktwirtschaft, Wettbewerb und Bürgerrechte hat neue Stammwähler angelockt. Und er hat Wähler, die sich zu anderen Parteienverirrt hatten, wieder zur Vernunft gebracht.
In der Regierungskoalition wurde einigen in der FDP das freiheitliche Programm durch zu viele Kompromisse verwässert. Auch die Erfolge in der Sache dürften nicht darüber hinwegtäuschen, dass die FDP programmatisch verbraucht sei, hieß es. Gefordert wurde ein neues Grundsatzprogramm, das die Wiesbadener Grundsätze fortschreiben soll. Generalsekretär Daniel Bahr setzte bereits eine Programmkommission ein. Sie soll sich insbesondere mit der zentralendemografischen Frage beschäftigen: Wie kann der Rückgang der Bevölkerung und der akut einsetzende Facharbeitermangel durch Verbesserung der Zuwanderungspolitik ausgeglichen werden?
Die FDP solle sich nun, so Bahr, nach sieben Jahren des Aufschwungs viel stärker den postmateriellen Themen der Freiheit wie den Menschenrechten weltweit und der Modernisierung der Verfassungsinstitutionen zu wenden. Wohlstand für alle sei noch lange nicht das gesamte Freiheitsverständnis der Liberalen.
Der Wahlkampf wird übrigens hart: Niemand hätte im Herbst 2004 gedacht, dass es dem damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder wirklich ernst war mit seiner Forderung nach Reformen. Und niemand hätte nach seiner Abwahlgedacht, dass Schröder die Seiten tatsächlich wechseln würde. Als neuer BDI-Präsident macht er der Opposition nun richtig Druck. „Schlimmer als der Lafontaine damals“, heißt es inzwischen unter Sozialdemokraten. |