Nachfolgend ein Kommentar aus der SZ von heute:
19.07.2002 07:49 Kommentar Agonie einer Regierung Von Kurt Kister (SZ vom 19.7.2002) - Im Fußball spricht man von einem Befreiungsschlag, wenn die Verteidigung unter starkem Druck der angreifenden Mannschaft den Ball möglichst weit aus dem eigenen Strafraum hinaus drischt. Ein missglückter Befreiungsschlag liegt vor, wenn der Ball zum gegnerischen Stürmer gerät und der ihn dann im Tor versenkt.
Gerhard Schröder hat durch den Rauswurf Rudolf Scharpings gerade einen fast schulmäßig missglückten Befreiungsschlag gelandet. Selbst die oft stolpernden, manchmal torkelnden Stürmer der Spielvereinigung Stoiber werden nicht umhinkommen, diese Vorlage des Kanzlers zu verwerten.
Das alte Muster
Es ist wieder einmal das alte Muster, dessen man allmählich überdrüssig wird: Die Union punktet, ohne selbst etwas dafür zu leisten; die SPD verliert, weil sie neue Dummheiten macht und alte Fehler nicht korrigiert hat. Die Causa Scharping ist ein idealtypisches Beispiel für die Schwächen des Systems Schröder.
Spätestens seit seiner kombinierten Bade- und Flugaffäre im August 2001 war Scharping eine nicht mehr tragbare Belastung für das Kabinett Schröder. In der SPD galt Scharping seit Lafontaines Mannheimer Putsch-Parteitag als pflichtbewusster Loser. Spitzengenossen, auch der Kanzler, blieben ihm in einer seltsamen Mischung aus Mitleid, Schuldbewusstsein und Loyalität verbunden.
Scharpings Selbstwahrnehmung unterschied sich krass von jenem Bild, das er bei Kabinettskollegen, Parteifreunden, Soldaten und Mitarbeitern hervorrief. Er sah sich als Politiker mit Kanzlerpotential, als kühler Analytiker, als führungsstarker Chef. Die anderen hielten ihn für einen Mann der Vergangenheit, einen linkischen Besserwisser und Rechthaber mit autistischen Zügen.
Scharping sah fast nie Fehler bei sich
Wie es sein kann, wenn Scharpings Welt mit der Realität kollidiert, zeigte der Verlauf des hektischen Donnerstags: Als Kanzleramt und Fraktion längst die Ablösung Scharpings gestreut hatten, sagte der Minister noch, er trete nicht zurück. Auch an diesem Tag wollte Scharping das letzte Wort und damit Recht behalten.
Die Persönlichkeit Scharpings war oft die Ursache für seine politischen Kalamitäten, was etwa der Verlauf der Airbus-Affäre deutlich machte. Scharping sah fast nie Fehler bei sich, weswegen er fast immer Kampagnen der Medien, Missgunst von Parteifeinden und das intellektuelle Unvermögen der ihn umgebenden Menschheit als Gründe der mit seinem Namen verbundenen Affären ausmachte.
Genauso lief es jetzt wieder in der Honorar-Affäre: Scharping ist unfähig einzusehen, dass man als Spitzenpolitiker einem PR-Berater keine Konto-Vollmacht geben darf. Er ist sich keiner Schuld bewusst und geht, wie er selbst sagt, „erhobenen Hauptes“. Das genau ist das Problem: Scharping hat lange sein Haupt immer so hoch getragen, dass er nicht mehr sah, was sich um ihn herum ereignete.
Schröder wusste dies alles und hatte trotzdem nicht die Kraft, Scharping rechtzeitig abzulösen. Mit dem in Berlin üblichen Zynismus hieß es stets, die Terroranschläge des 11. September hätten Scharping gerettet. Dies stimmt nur zum Teil. In der Umgebung des Kanzlers weiß man, dass Schröder gegenüber „dem Rudolf“ eine für ihn völlig untypische Beißhemmung hatte.
Beziehung mit pathologischen Zügen
Im Laufe der Zeit wurde aus dem belasteten Verhältnis zwischen Kanzler und Verteidigungsminister eine Beziehung mit pathologischen Zügen. Schröders Spott über Scharping war auch Ausdruck seiner Hilflosigkeit. Wider seinen sicheren politischen Instinkt hielt Schröder bis fünf Minuten nach zwölf an Scharping fest.
Das Resultat aus alledem ist die nun selbst für das Kabinett Schröder ungewöhnliche Entlassung eines Ministers gegen dessen erklärten Willen. Der Kanzler musste Scharping regelrecht hinauswerfen. Im Wahljahr 1998 gab es die Troika Schröder, Lafontaine, Scharping an der Spitze einer selbstbewussten, siegessicheren SPD.
Schröder hat sich gegen Lafontaine, Scharping und die SPD behauptet – aber zu welchem Preis! Im Wahljahr 2002 herrscht Schröder als letzter Troikaner über eine kleinmütige, am Rande des Abgrunds dahinschlurfende Partei. Scharpings Nachfolger Peter Struck ist schon jetzt eine historische Fußnote als der am kürzesten amtierende Verteidigungsminister in der deutschen Nachkriegsgeschichte sicher. Auch das ist eine Form von Karriere.
Für die immer wahrscheinlicher werdende Ablösung der rot-grünen Regierung kann der 18. Juli ein entscheidendes Datum werden. In den letzten Wochen hatte die SPD ein wenig zugelegt, immerhin so sehr, dass bei ihr und anderswo neue Hoffnungen aufkeimten. Dieser Prozess ist abrupt gestoppt worden, weil mit Scharpings Rausschmiss der Eindruck nachhaltig verstärkt wurde, dass wir von einer Regierung geführt werden, die in Endzeit-Agonie verfallen ist.
Schröder hat binnen vier Jahren acht Minister auswechseln müssen, darunter zwei in den Schlüsselressorts Finanzen und Verteidigung. Die Personaldecke der SPD ist so dünn geworden, dass sich Spitzenleute der Partei schon deswegen vor einer weiteren Legislaturperiode eher fürchten. Obwohl auch die Union überwiegend abgestandenen Wein in alten Schläuchen bietet, müsste sie sich angesichts des Zustands der SPD in den noch verbleibenden 66 Tagen schon sehr dumm anstellen, um am 22. September nicht stärkste Fraktion zu werden. Quelle: http://www.sueddeutsche.de/index.php?url=/...ik/48671&datei=index.php |