Von Peter Carstens
23. August 2005 Der politische Liberalismus hat in Deutschland mehr Anhänger als Wähler. Jeder fünfte im Lande kann sich vorstellen, eine Partei zu wählen, der die Freiheit des Individuums mehr bedeutet als die Lenkungsmacht des Staates. Dem Verlangen nach staatlicher Betreuung stellt die FDP den Wunsch nach Freiheit gegenüber. Frei von Vormundschaft möge man seine Schule auswählen, das Studium bestimmen, die Krankenversicherung wählen und seine Altersvorsorge organisieren. Wer forschen möchte - bitte schön. Zur Kernkraft sagt die FDP: ja, gerne; zur Wehrpflicht: nein, danke. Wer dienen will, der kann das tun: freiwillig im sozialen Jahr oder als ordentlich bezahlter Soldat.
Die FDP vertraut mehr als die anderen Parteien auf das Vermögen der Bürger, viele ihrer Dinge selbst zu regeln. Nicht der Staat soll dem Bürger Freiheiten gewähren, sondern die Bürger erlauben dem Staat, einzelne Freiheiten zu beschränken, um die Rechte aller zu wahren. Dem Risiko, an der Freiheit zu scheitern und Eigenverantwortung nur als verweigerte Solidarität zu erfahren, setzt die FDP ihren Optimismus entgegen. Von Solidarität reden ja ohnehin diejenigen ständig, denen die Furcht vor den allermeisten Lebensumständen den Staatsglauben rechtfertigt.
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In einem Staat, dessen Bundesetat für die Arbeitslosenverwaltung sechsmal höher ist als der für Forschung und Bildung, in dem die Hälfte des Einkommens für unzulänglich erledigte Staatsaufgaben einbehalten wird, in dem die staatlich kontrollierte Gesundheitsfürsorge von einer Krise zur nächsten wankt und der Begriff Rente gleichbedeutend mit Unsicherheit und Lücke geworden ist, könnten viele es für nötig halten, selbst zu organisieren, was der Staat, und sei er auch gutwillig, nicht (mehr) leistet.
Die FDP möchte diese Auffassung repräsentieren. "Freiheit zur Verantwortung" und nicht "Freiheit von Verantwortung" nennt der Parteivorsitzende die Geisteshaltung hinter dem Programm seiner Partei. Aus seinem Blickwinkel betrachtet, ist die FDP als einzige willens, Veränderungen zu wagen, die zumindest in der Finanz- und Sozialpolitik einer Neuerfindung der Republik gleichkämen.
Dem entgegen stehen CDU/CSU und SPD, die sich nach Auffassung des FDP-Generalsekretärs in ihrem Sozialdemokratismus nur dadurch unterscheiden, daß sie ihn entweder schwarz lackierten oder rot anstrichen. Beider Programmatik reiche nicht hin für eine "geistige Erneuerung unseres Landes", die der FDP-Spitzenkandidat verlangt. Gleichwohl fällt es der FDP schwer, ihre Neugründungsvision theoretisch und personell zu untermauern und ihre Verwurzelung zumindest in größeren Teilen des deutschen Bürgertums zu dokumentieren. Die parlamentarischen Verwalter des Liberalismus stehen oft allein, wenn es darum geht, ihrer Politik Stimmen zu beschaffen. Obschon FDP-Auffassungen von der Ordnung der Wirtschaft, den Finanzen, von Staat und Recht im großen und ganzen weit verbreitet sind bei Unternehmern, in Forschung, Lehre und Rechtspflege, finden sich nicht viele bereit, für diese Haltung öffentlich zu streiten.
So muß sich der FDP-Wahlkampf darauf beschränken, die Partei vor der Unsichtbarkeit zu bewahren. Das fällt schwer angesichts der Erinnerung an den "Spaßwahlkampf" von 2002. Beinahe alle taktischen Tricks, die damals angewandt wurden, um der Partei und ihrem Programm Aufmerksamkeit zu verschaffen, gelten nunmehr als Teufelszeug. Das "Projekt 18" war verbunden mit einem hohen Wahlziel, nämlich achtzehn Prozent der Stimmen, der Aufstellung eines Kanzlerkandidaten und dem Entschluß, als unabhängige Kraft und baldige Volkspartei den Wahlkampf zu bestreiten.
Die Mischung aus überzogenen Ansprüchen, fragwürdigen Werbemethoden und vergleichsweise kläglichem Ergebnis (7,4 Prozent) hat die FDP Glaubwürdigkeit gekostet. Mit einer Strategie maximaler Seriosität soll nun diesem Ansehensverlust begegnet werden. Dabei fällt es der FDP nicht leicht, den Eindruck zu vermitteln, daß sie beim Neuanfang gleichzeitig Motor und Bremse von Veränderungen sein will: Die FDP versteht sich als treibende Kraft bei der Wirtschafts- und Finanzpolitik. Beinahe täglich erneuert sie ihr Bekenntnis gegen Steuererhöhungen; sie wirbt für den Abriß des Sozial- und Verbändestaates, für die Entmachtung seiner Funktionäre und die Beseitigung seiner Monopole im Arbeits- und Tarifrecht.
Die FDP wirbt aber gleichzeitig dafür, die Hinterlassenschaft rot-grüner Gesellschaftspolitik zu bewahren: das Staatsbürgerschaftsrecht, das sogenannte Zuwanderungsgesetz und das Gesetz zu gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften. Widerstehen will die Partei zu erwartenden Versuchen der Union, durch neue Sicherheitsgesetze dem Staat weitere Fahndungs- und Ermittlungsmöglichkeiten zu sichern, deren Wirksamkeit sie bezweifelt und die sie "als schleichende Entwertung der Grundwerte unserer Verfassung" tadelt.
Daß die Grünen sich im Eifer der Gefahrenabwehr nach den Terroranschlägen von New York, Washington und Madrid daran beteiligt haben, sieht die FDP als Beleg für die Behauptung, Bürgerrechte seien nur bei ihr gut aufgehoben. Das gilt auch für verfassungsrechtliche Streitfälle wie das NPD-Verbotsverfahren, das die FDP als einzige Bundestagspartei von Anfang an mißbilligt hatte, weil der Rechtsradikalismus politisch zu bekämpfen und nicht per Dekret zu verbieten sei.
Im Wahlkampf sind diese Differenzen bislang weniger deutlich geworden als die Meinungsverschiedenheiten mit der Union, die als verfrühte Koalitionsverhandlungen zu deuten waren. Union und FDP schienen beim Gerangel um gute Ausgangspositionen für ihr Regierungsprogramm zu vergessen, daß zunächst die Wahl gewonnen sein will. Dabei wäre der FDP schon viel geholfen, wenn sie die Hälfte derer, die ihre Auffassungen teilen, dazu bewegen könnte, sie zu wählen.
Text: F.A.Z., 24.08.2005, Nr. 196 / Seite 1 |