Der Erste Weltkrieg war gerade erst beendet: [...] Man muß diesen Hintergrund sehen, um den Gestus der Radikalität zu verstehen, der die beginnenden zwanziger Jahre auf allen Gebieten kennzeichnet. Weil der Tod auf so furchtbare Weise ins allgemeine Bewußtsein gedrungen war, konnte er jetzt nicht verdrängt oder überspielt werden. Gibt es überhaupt etwas?, hatte Heidegger gefragt. Er nennt diese Frage selbst 'kümmerlich', fordert aber, bei dieser Kümmerlichkeit auszuharren, denn: "Wir stehen an der methodischen Wegkreuzung, die über Leben und Tod der Philosophie überhaupt entscheidet, an einem Abgrund: entweder ins Nichts, d.h. der absoluten Sachlichkeit, oder es gelingt der Sprung in eine andere Welt, oder genauer überhaupt in eine Welt." [...] Die Wertphilosophie ist als Kulturphilosophie des bürgerlichen Kantianismus eine Theorie der geltenden Normen und des herrschenden "Sollens". Sie fragt nicht radikal genug zurück, was diese Normen sind, für wen sie warum gelten, welche Seinsart den 'Subjekten' zukommt, die sie befolgen. Heidegger geht in seiner typischen Weise gleichsam auf den Nullpunkt zurück; wir (als Philosophierende) können so fragen. Wenn wir dies vergessen, dann "verleugnen wir ... uns selbst. Nehmen wir an, wir wären überhaupt erst nicht da. Nun, dann gäbe es die diese Frage nicht." Das heißt: Der radikale Rückgang auf die Möglichkeit des Fragens selbst enthüllt als verborgene Voraussetzung unser eigenes Sein. ['Interrogo, ergo sum' - eine fragwürdige Neufassung des cartesianischen Diktums. Anm. boers.] [...] Das Sein ist also angewiesen auf Seiendes, um überhaupt gedacht werden zu können.
[Thomas Rentsch - Martin Heidegger: Das Sein und der Tod. (1989) S. 56 f.] |