Vorweg: Liest man „Der vierzehnte Stein“ als herkömmlichen Krimi, fokussiert auf Handlungsführung und Plausibilität auf, funktioniert er wie die übliche Dutzendware aus Autorenwillkür und Unlogik. Zwei Beispiele: Während eines Lehrgangs in Kanada lernt Adamsberg ein junges, etwas seltsames Mädchen kennen und schläft mit ihm. Einige Tage darauf ist das Mädchen tot, erstochen mit einem Dreizack, der Mordwaffe des diabolischen Richters. Er ist, so die einzige logische Folgerung, Adamsberg nach Kanada gefolgt, und hat das Mädchen getötet, um Adamsberg zu belasten. Logisch? Also ich weiß nicht. Woher wusste er, dass Adamsberg ein Mädchen kennenlernen würde? Warum setzt er sich überhaupt der Gefahr aus, den Kommissar auf diese Weise auszuschalten? Weil er ihm auf der Spur wäre? Ist er doch gar nicht! Keiner glaubt ihm! Zweites Beispiel: Kommissar Adamsberg, des Mordes an obigem jungen Mädchen verdächtigt, plant seine Flucht aus Kanada, wozu er sich der Überwachung duch die einheimische Polizei entziehen muss. Die ihn begleitende, nun ja, sehr kräftige Kollegin Violette Retancourt macht einen Vorschlag: Er möge sich, während die Polizei ihr Hotelzimmer durchsucht, an ihren Rücken klammern. Die Beine vom Boden heben, damit sie das Manöver nicht vereiteln, das Ganze durch einen großzügig geschnittenen Bademantel kaschiert. Adamsberg wiegt 72 Kilo und ist normalgroß. Könnte das wirklich funktionieren in dem, was wir „wirkliches Leben“ nennen? Ich wüsste nicht wie. Jemand, er oder sie mag so dick sein wie er oder sie will, trägt 72 Kilo auf dem Rücken – und keinem fällt es auf? Der Bademantel verdeckt alles? Nee, also das glaube ich nicht. Schweigen wir ganz von dem, was ich im ersten Teil ein wenig despektierlich die Geschwätzigkeit der Autorin nannte. Das heißt: Nein, schweigen wir davon eben nicht, denn dieses ausufernde Schildern ist der Schlüssel zum Perspektivwechsel. Etwas in die Hand zu nehmen, es zu drehen und zu wenden, von allen Seiten zu betrachten, jede Beobachtung zu notieren: Das tut man, um sich zu vergewissern, eine Entwicklung in jedem ihrer Stadien festzuhalten, beinahe wissenschaftlich. Und das ist Vargas’ Ziel: eine akribische Analyse dieses Mannes Adamsberg, den sie zunächst fein säuberlich auseinandernimmt, um ihn dann – neu – zusammenzusetzen. Akzeptiert man diese Lesart, zeigt sich der Charakter des Protagonisten in einem anderen Licht. Er, der so unfehlbar scheint, so arrogant und instinktgesteuert, wird allmählich dekonstruiert. Die Erkenntnis, dass jener tote Richter weitermordet, ist der Meißel, den Vargas ansetzt, um ihr Werk zu beginnen. Ein toter Richter mordet? Adamsberg, der nicht zu denken braucht, dem alles kraft seiner überwältigenden Persönlichkeit zuzufliegen scheint, kann es sich nicht anders vorstellen: Der Richter ist tot, daran gibt es keinen Zweifel. Das Mädchen aus Schiltigheim hat er aber ermordet! Den Gedanken, ein Nachahmer sei am Werk gewesen, weist er zurück. Zumal er nicht von ihm kommt, sondern von Danglard, seinem Stellvertreter, der ihm in allem diametral gegenüber steht. Ein Kopfmensch eben, ein Bildungsbürger, ein Spießer. Die Malässe, in die Adamsberg nach dem Mord an seiner jungen Geliebten gerät, bringt den Koloss endgültig zu Fall. Von nun an ist ein Nichts, ein Haufen disparater Teile, die kein Ganzes mehr ergeben. Fred Vargas macht sich daran, ihn neu zu konstruieren. Dazu benötigt sie ausgerechnet und folgerichtig jenes Personal, das vom „alten" Adamsberg wegen zu großer Intellektualität geringgeschätzt wird: Danglard und Violette Retancourt. Hinzukommen zwei ältere Damen und ein geistig eher schlichter Kollege aus Kanada. Mit ihrer Hilfe wird Adamsberg ein neuer Mensch: weniger arrogant, schon gar nicht mehr unfehlbar, nicht mehr ausschließlich instinkt-, sondern bei Bedarf auch kopfgesteuert. Und dieses Kopfgesteuerte ist jetzt gefragt: Adamsberg kommt hinter die Beweggründe des Richters durch eine logisch-gedankliche Meisterleistung. So gelesen, zeigen sich auch die Spannungsbögen, die den ganzen, 480 Seiten langen Text zusammenhalten – und den Leser bei der Stange. Sie ergeben sich nicht aus der Eins-zu-Eins-Rezeption der Handlung. Diese Handlung selbst wird in Symbole und Bilder zerlegt, auf eine wie gesagt sehr penible, bedächtige, wissenschaftliche Art. Die Sache mit Adamsberg auf dem Rücken seiner Kollegin etwa wird als Bild in diesem Kontext plausibel. Man ist immer an andere gekettet, kein solistisch-solipsistischer Akteur. Vor diesem Hintergrund hat das Bild durchaus Poesie. Es ist ungewöhnlich, bizarr und stark. Die Spannung ist nicht äußerlicher Natur (oder, so kann man es auch sehen: die Spannung der Story ist so moderat wie in den meisten Krimis). Sie entsteht durch die Metamorphose Adamsbergs, der alles untergeordnet ist. Nebenbei, und weil das „Nebenpersonal“ eine wichtige Funktion innerhalb des Neugestaltungsprozesses übernimmt, formiert sich ein intensiver Chor voluminöser Stimmen. Danglard und alle anderen, die die Kärrnerarbeit zu leisten haben, nehmen in ihrer Abstraktheit menschliche Gestalt an. Wozu aber der ganze Aufwand? Das nun ergibt sich ziemlich schnell aus der Handlung selbst. Adamsberg leidet an einem Trauma, und dieses Trauma ist eng mit dem Richter und seinen Untaten verbunden. Wie in jenem See, der Adamsberg in Kanada so beeindruckt, lagert diese Schicht unbeweglich unter den fließenden Wassern der Biografie. Sie ist da, sie ist tot, aber ein Fossil lebt in ihr weiter. Ein Fossil, das nur auf den ersten Blick jener Richter ist. In Wahrheit ist es Adamsberg selbst, der heil-, ziel- und endlos als ein längst aus der Menschenart geschlagenes Urzeitgeschöpf durch seine Vergangenheit schwimmt. Damit hat es nun ein Ende, das Brackwasser mit seinem Morast verschwindet für immer. "Der vierzehnte Stein" beschreibt die Geschichte einer Heilung. Ein heilsamer Roman in jeder Hinsicht, dessen Konkretheit in Abstrakta übersetzt wird, die im Verlauf der Geschichte wieder zurück ins Leben übertragen werden. Fazit: Ein tolles Buch. Sagte ich ja schon. |