Von Axel Bojanowski
Die Tsunami-Katastrophe in Asien hat eine der größten Forschungskampagnen aller Zeiten ausgelöst. Ein Jahr danach sind Experten besorgter denn je: Hinweise verdichten sich, dass der Region ein neues schweres Seebeben unmittelbar bevorsteht.
Vermutlich 230.000 Menschen starben am 26. Dezember 2004 durch die gigantischen Wellen, die vor allem in Indonesien, Thailand, Sri Lanka und Indien die Küsten verwüsteten. Forscher befürchten, dass eine solche Naturkatastrophe wieder auftreten kann. Möglicherweise werde es schon bald ein neues vernichtendes Beben im Indischen Ozean geben, betonen mehrere Forscherteams unabhängig voneinander.
Sonar-Aufnahmen des Meeresgrundes vor Indonesien, die vom Leibniz-Institut für Meereswissenschaften in Kiel erstellt wurden und SPIEGEL ONLINE vorliegen, beunruhigen die Experten. Forscher um Wilhelm Weinrebe haben den Meeresboden mit Schallwellen abgetastet. Vor Sumatra fällt der Meeresboden auf 5000 Meter Tiefe ab - der Kontinentalhang ist höher als die Alpen. Unter dieses Untersee-Gebirge schiebt sich die australische Erdplatte. Die Gesteine verzahnen sich, große Spannungen entstehen. In letzter Zeit hat sich der Druck nicht abgebaut, fanden die Kieler Forscher heraus: Sie entdeckten keine Spuren größerer Erdstöße. Ein schweres Seebeben erscheint daher überfällig.
Vor einer erneuten Katastrophe warnt auch der Geologe Kerry Sieh vom California Institute of Technology. Er hat in den vergangenen Monaten Korallenriffe an der Küste Indonesiens untersucht. Das Ergebnis: Die schweren Erdstöße vom 26. Dezember 2004 und 28. März 2005 haben die Grenze zwischen den Kontinentalplatten wie einen Reißverschluss geöffnet - allerdings nur zu einem Viertel. Südlich der beiden Epizentren habe es dagegen auf mehreren Tausend Kilometern seit Jahrhunderten kein Starkbeben mehr gegeben.
Das Gestein sei mithin zum Bersten gespannt, folgert Sieh. Die beiden Beben hätten den Druck sogar weiter erhöht - um vier Bar. So stark steigt die Spannung durch die Bewegungen der Erdplatten normalerweise im Lauf von rund 50 Jahren. Die "Erdbebenuhr" habe sich mit einem Schlag auf eine Katastrophe hinbewegt, meint Sieh. Er erwartet schon in Kürze weitere Tsunami-Beben vor Indonesien.
Globale Forschungskampagne nach der Katastrophe
Die Tsunamis, die vor einem Jahr Hunderttausende töteten, haben eine der größten Forschungskampagnen aller Zeiten ausgelöst. Kurzerhand wurden Forschungsschiffe wie die deutsche "Sonne" oder die amerikanische "Performer" freigestellt, die eigentlich auf Jahre hin ausgebucht sind. Monatelang kreuzten Wissenschaftler in der Katastrophenregion und untersuchten den Meeresboden.
Minutiös rekonstruierten sie, was unter der Erde vor Sumatra geschehen war. Zwei dicke Gesteinsplatten, beide Dutzende Kilometer stark, schieben sich dort übereinander, verzahnen sich und bauen dadurch Spannungen auf, die sich regelmäßig bei Erdbeben entladen. Am 26. Dezember 2004 um 1.58 Uhr mitteleuropäischer Zeit hielt die nach unten gebogene südostasiatische Platte nicht mehr Stand: Sie brach an der Kante ab und schnellte nach oben. Mit einer Stärke von 9,3 auf der Richterskala war es das heftigste Beben der vergangenen 40 Jahre. Der Boden des Indischen Ozeans wurde erschüttert wie beim Einschlag eines 1000-Meter-Meteoriten.
Von der Nordspitze Sumatras aus riss die Erde auf einer Länge von 1300 Kilometern auf. Die 160 Kilometer tiefe Spalte fraß sich mit einer Geschwindigkeit von 2,5 Kilometern pro Sekunde nach Norden vor, der Ozeanboden ruckte bis zu 15 Meter in die Höhe. Der Stoß verursachte die Monsterwellen, die sich über den Indischen Ozean bis in alle Meere ausbreiteten.
Erdball vibrierte wochenlang
Die Erschütterungen liefen mehrmals um den Globus: Sie ließen den Boden von Sri Lanka wie einen wellenschlagenden Teppich neun Zentimeter auf und ab flattern. Inseln verschoben sich um Dutzende Zentimeter, der gesamte Indische Kontinent bewegte sich zwei Zentimeter nach Osten. Noch Wochen später zitterte der gesamte Erdball.
Die neuen Erkenntnisse über eine bevorstehende Wiederholung der Katastrophe treiben auch die deutschen Experten zur Eile, die derzeit ein Tsunami-Warnsystem im Indischen Ozean aufbauen. Obwohl es in Deutschland bis vergangenes Jahr kaum Tsunami-Forschung gab, begannen auf Geheiß der Bundesregierung mehrere Wissenschaftszentren mit der Entwicklung eines Warnsystems für Indonesien im Wert von 45 Millionen Euro.
Die erfahrenen Tsunami-Nationen USA und Japan hätten das Alarmsystem ebenfalls gern entwickelt. Eifersüchtig sperrten sie den Deutschen den Zugang zu ihren Daten. Den Plan, binnen drei Jahren ein modernes Warnsystem fertigzustellen, hielten US-Forscher ohnehin für abwegig. Die deutsche Gruppe unter Leitung von Jörn Lauterjung vom Geoforschungszentrum Potsdam (GFZ) erklärte indes unerschrocken, sie wolle das beste Alarmsystem der Welt entwickeln. Zunächst wusste allerdings niemand, wie man das macht.
Schnelle Arbeit am Frühwarnsystem
Doch das änderte sich. Auf zahlreichen Tagungen, die Teilnehmer als "chaotisch und kreativ" beschreiben, entstand das Konzept. Schneller als erwartet fanden sich zudem geeignete Technikfirmen, die die benötigten Geräte entwickelten.
Die Basis des Warnsystems bilden Erdbebenmessgeräte. Sie sind erforderlich, weil die meisten Tsunamis von starken Seebeben ausgelöst werden. Je mehr Seismometer in einer Region platziert sind, desto schneller und genauer kann ein Beben lokalisiert werden - denn bei der Tsunami-Warnung zählt jede Sekunde.
Der Indische Ozean ist bisher viel zu grobmaschig mit den Messgeräten bestückt, als dass rechtzeitige Warnungen möglich wären. Deshalb sollen in der Region 40 Geräte installiert werden, die über Satellitenverbindungen verfügen. Binnen zwei Minuten werde die Stärke eines Seebebens im Indischen Ozean gemessen sein, verspricht Lauterjung. Die ersten Geräte wurden bereits installiert.
Ein wichtiges Standbein des Warnsystems sind zudem Bojen, die gefährliche Schwankungen des Wasserspiegels aufspüren sollen. Zwei deutsche Testbojen tanzen bereits auf den Wellen 160 Kilometer vor der Küste Sumatras.
Gefahr an Atlantik- und Mittelmeerküsten
Von den Fortschritten der Deutschen offensichtlich beeindruckt, lenkten die US-Experten ein. Im August gaben sie ihre Daten frei und vereinbarten eine Kooperation. Schiffe beider Länder erkundeten den Boden des Indischen Ozeans und speisten die Karten in Computermodelle ein, die die Ausbreitung der Riesenwellen vorhersagen sollen. Ein besonders ambitioniertes Vorhaben, denn die Amerikaner tüfteln seit neun Jahren an ähnlichen Programmen für ihre Pazifikküste - bisher ohne durchschlagenden Erfolg.
Bei den intensiven Forschungen nach der Tsunami-Katastrophe entpuppten sich auch viele andere Küsten als gefährdet. So sollen nun auch der Atlantik und das Mittelmeer besser geschützt werden. Anders als am Indischen Ozean, wo politische Konflikte kontraproduktiv wirken, fällt die Zusammenarbeit der Atlantik- und Mittelmeer-Anrainer leichter: Bis Ende des Jahres 2007 wollen sie gemeinsame Alarmsysteme fertigstellen.
Sollte es in Asien erneut zu einem Starkbeben und Tsunamis kommen, könnte aber auch das beste Warnsystem nicht alle Menschen in der betroffenen Region retten. Die Millionenstadt Padang in Sumatra etwa liegt unmittelbar nördlich der Erdbebenzone. Nach einem schweren Seebeben würden zehn Meter hohe Wasserwände innerhalb weniger Minuten die zum Teil unter dem Meeresspiegel gelegene Stadt erreichen und zu großen Teilen verwüsten.
Als der Tsunami am 26. Dezember 2004 die indonesische Stadt Banda Aceh traf, drang er acht Kilometer ins Landesinnere ein und tötete Zehntausende. In Padang leben rund dreimal mehr Menschen als damals in Banda Aceh - und die Hälfte lebt weniger als fünf Kilometer vom Strand entfernt. Sollte hier ein Tsunami einschlagen, so warnt US-Geologe Sieh, könnte er die Zahl der 169.000 Toten und Vermissten von Banda Aceh weit übertreffen.
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