Am 26. August 1986 beschloß die SPD auf ihrem Nürnberger Parteitag einen Ausstieg aus der Atomenergie innerhalb von zehn Jahren.
In der Koalitionsvereinbarung legten die SPD und die GRÜNEN fest:
"Der Ausstieg aus der Nutzung der Kernenergie wird innerhalb dieser Legislaturperiode umfassend und unumkehrbar gesetzlich geregelt. ..."
Seit zwei Jahren versucht die Bundesregierung, die Modalitäten für einen Atomausstieg im Konsens mit der Atomwirtschaft zu erreichen.
Im Januar 2000 einigte sich die Regierungskoalition auf eine Gesamtlaufzeit der Reaktoren von 30 Kalenderjahren. Dieses Angebot wurde am 29.1. umgehend von dem Vorstandssprecher der Hamburgischen Electricitäts-Werke (HEW), Manfred Timm, abgelehnt. 35 Jahre müßten es schon sein. Dies sei bereits ein Zugeständnis. Ein Monat später fordern die Vertreter der Atomwirtschaft mindestens 35 Volllastjahre. Angeblich entspräche dies 42 Kalenderjahren Betriebszeit. Da die Gesamtarbeitsverfügbarkeit (s.o.) aller noch laufenden Kernkraftwerke seit Betriebsbeginn sowohl anlegen-gemittelt als auch strommengen-gemittelt 77,1% bzw. 77,3% beträgt, entsprächen 35 Volllastjahre jedoch 45 Kalenderjahren. Die Einrechnung des Ausfalls der Reaktoren in die Gesamtlaufzeit hätte außerdem zur Folge, daß die unsichersten Reaktoren mit den längsten und häufigsten Abschaltungen am längsten am Netz bleiben dürften!
Vorschlag: Im Atomgesetz ist die Haftung des Betreibers eines Kernkraftwerks auf maximal 500 Mio DM begrenzt. Diese Haftungsobergrenze, die laut § 13 "im Abstand von jeweils fünf Jahren mit dem Ziel der Erhaltung des realen Wertes der Deckungsvorsorge zu überprüfen" ist, blieb seit Beginn des Atomgesetzes im Jahr 1959 gleich.
Warum streicht man nicht diese antiquierte Haftungsobergrenze, die in den fünfziger Jahren zur Förderung der Atomkraft eingeführt wurde, ersatzlos?
Die maximale Betriebsdauer der bisher abgeschalteten Werke beträgt 25 Jahre, die maximale Betriebsdauer eines Kernkraftwerks (Obrigheim) 31 Jahre. Neue Kernkraftwerke wurden nach dem Atomunfall in Harrisburg 1984 nicht mehr gebaut. Durch die Liberalisierung auf dem Strommarkt werden auch in Zukunft keine Atomkraftwerke mehr gebaut werden.
Am 15. Juni 2000 einigte sich die Bundesregierung mit der Atomwirtschaft auf ein Auslaufen der bestehenden Kernkraftwerke. Insgesamt dürfen die KKW zusammen noch eine Strommenge von 2 623 TWh erzeugen. Das entspricht etwa der bisher von allen deutschen KKW erzeugten Atomstrommenge. Bundesregierung und Atomwirtschaft behaupten, daß dies einer Gesamtlaufzeit aller KKW von 32 Jahren entspreche. Korrigiert man zwei besondere Rechenverfahren zugunsten der Atomwirtschaft und legt stattdessen die bisherige Gesamtarbeitsverfügbarkeit der KKW zugrunde, entspricht die zugestandene Atomstrommenge einer durchschnittlichen Gesamtlaufzeit aller KKW von 34 Jahren. Da die vereinbarte Reststrommenge zwischen den einzelnen KKW getauscht werden kann, wird die Atomwirtschaft weniger wirtschaftliche ältere Anlagen wahrscheinlich früher stilllegen. Die Wiederaufarbeitung abgebrannter Brennelemente wird ab 2005 beendet, die Haftungsobergrenze wird von 0,5 auf 5 Mrd DM erhöht.
SPIEGEL-Online berichtet am 5.10.02, daß es eine Geheimabsprache zwischen Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) und Gerhard Goll (CDU), dem Vorstandsvorsitzenden des AKW-Betreibers Energie Baden-Württemberg (EnBW) über den Weiterbetrieb des veralteten Kernreaktors Obrigheim geben soll. Der 34 Jahre alte Reaktor, der nur noch eine Restlaufzeit bis 31.12.2002 besitzt, könnte demnach viele Jahre weiter betrieben werden. Das rot-grüne Ausstiegsgesetz ermöglicht den Kraftwerksbetreibern, Stromkontingente von älteren auf neuere Meiler zu übertragen – den umgekehrten Fall jedoch erlaubt das Gesetz nur als Ausnahme. Diese Ausnahme soll nach der Vereinbarung mit Schröder nun ausgerechnet bei dem alten Reaktor Obrigheim, der noch nicht einmal gegen normalen Flugzeugabsturz gesichert ist, angewandt werden.
Regierungssprecher Anda dementierte am selben Tag den Bericht: "Es hat Gespräche gegeben, aber keine Absprache." Über den Antrag des Betreibers muss nun das Bundesumweltministerium in Absprache mit dem Wirtschaftsministerium und Kanzleramt entscheiden.
Von der Entscheidung wird abhängen, ob das Atomausstiegsgesetz ernst gemeint oder nur als Alibiveranstaltung gedacht war, um die Atomindustrie vor möglichen weitergehenden Sicherheitsauflagen während der normalen Betriebszeit der Kernkraftwerke zu schützen.
Obwohl die Abmachung zwischen Bundeskanzler Schröder und der EnBW von der Bundesregierung mehrmals dementiert wurde, forderte die SPD mit Kanzler Gerhard Schröder in den Koalitionsverhandlungen, dem EnBW-Antrag (Weiterbetrieb um 15 TWh oder 5 Jahre) in vollem Umfang stattzugeben. Die Grünen wollten den Meiler pünktlich abschalten. Der am 14.10.02 beschlossene Kompromiss sieht so aus, dass das Kernkraftwerk Obrigheim noch 5,5 TWh oder 2 weitere Jahre bis Anfang 2005 weiterlaufen kann, die Reststrommenge wird von dem älteren KKW Phillipsburg I übertragen.
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