Saugute Analyse von Prof. Dr. Gesa Lindemann:
'...dass es im Rahmen der postkolonialen Theorie kaum möglich ist, die Unterdrückungsverhältnisse in den postkolonialen Gebieten zu reflektieren. Diese Schwierigkeit kann sich geradezu zu einem Verbot verdichten, an brutal anmutenden Herrschaftsformen überhaupt noch Kritik zu üben.
Außerdem kann die postkoloniale Perspektive manchmal dazu führen, alle zu unterstützen, die sich gegen den Westen richten, auch wenn es sich um gewaltfähige Akteure handelt, die selbst repressiv gegen die eigene Bevölkerung vorgehen. Ein Beispiel hierfür ist, den Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 zu einem revolutionären Sieg im Krieg gegen israelische Unterdrücker zu erklären. Damit orientiert sich die Linke an der Gewaltordnung des Ausgleichs. Es geht dann nicht mehr um die Gestaltung einer zukünftigen besseren Gesellschaft, denn das würde eine universalistische Kritik auch an den patriarchalen Gewaltformen islamischer Staaten und Gruppen einschließen, sondern um die Solidarisierung mit der einen Gruppe gegen eine andere.
Diese Wendung wurde in den letzten Jahrzehnten im Rahmen einer Veränderung der Koordinaten linker Politik vorbereitet, die sich maßgeblich in den USA vollzogen hat. Der Soziologe und Historiker John Torpey hat dies in einer prägnanten Formel zusammengefasst. Aus dem linken Credo "do not mourn organize", das dem Gewerkschafter Joe Hill zugeschrieben wird, sei geworden: "Organize to mourn." Es gelte, das vergangene gewaltsame Unrecht an den Kolonisierten, den Schwarzen, den queeren Menschen, den people of colour und allen anderen Unterdrückten zu identifizieren, es zu beklagen und zu betrauern.
Damit rückt die an der vergangenen Verletzungserfahrung ausgerichtete Identität in den Mittelpunkt. Die Erinnerung an die vergangene Gewalt und die Forderung nach deren Anerkennung überlagert die Möglichkeit, die Zukunft zu gestalten. Wer den identitätsstiftenden Vergangenheitsbezug über die Möglichkeit stellt, die Zukunft zu gestalten, kann nicht mehr offen universalistisch argumentieren, sondern steht mit einem Bein in der Ordnung des rächenden Ausgleichs und kann nicht mehr anders, als die rächende Gewalt zu rechtfertigen...'
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