Osnabrück. Das Corona-Virus markiert einen Epochenbruch. Es konfrontiert uns mit dem verdrängten Gefühl der Angreifbarkeit. Ansteckung und mögliche Krankheit verändern das Körpergefühl. Künstler von Joseph Beuys bis Keith Haring haben das schon früher thematisiert. Ein Essay über Antworten auf die neue Frage nach der Endlichkeit.
„Und immer wieder vergesse ich die Sache mit dem Tod. Man sollte meinen, man vergesse das nicht, aber ich vergesse es, und wenn es mir wieder einfällt, muss ich jedes Mal lachen, ein Witz, den man alle zehn Minuten neu erzählen kann“: Der Schriftsteller Wolfgang Herrndorf notiert diesen Satz am 6. September 2011 um 13.16 Uhr in seinem Blog „Arbeit und Struktur“. Der Sensationserfolg seines Jugendromans „Tschick“ liegt da gerade ein knappes Jahr zurück. Herrndorf spricht über sich als Tumorpatient. Mit seinem Bericht berührt er das große Lesepublikum. „Arbeit und Struktur“ wird Kult. Jetzt ist es wieder ein Buch der Stunde. Der Unterschied: Herrndorfs Erfahrung der Fragilität des eigenen Körpers ist allgemein geworden. Dafür sorgt die Corona-Pandemie.
Virus markiert Epochenbruch
Sars-CoV-2: Der Name des Erregers markiert einen Epochenbruch. Die Corona-Krise wird doppelt erlebt – als belastender Alltag und als epochale Wende. Wir bewältigen den Stress von Shutdown und Kontaktverbot und reflektieren bereits, welche Bilder und Objekte später an die Epidemie erinnern werden. Museen in Berlin und München sammeln bereits jetzt Objekte, mit denen in Jahren an die Corona-Zeit erinnert werden soll. Wir leben in doppelter Zeit und ihren jeweiligen Ebenen. Denn der Einschnitt betrifft nicht nur die Angst vor dem ökonomischen Kollaps oder die Sorge um die Freiheitsrechte. Die Corona-Zäsur verändert, was ebenso unsichtbar bleibt wie das Virus – Körperbewusstsein und Lebensgefühl. Das Virus zertrümmert kollektive Gewissheiten, auch die eines absehbar langen Lebens und all dessen, was wir unter dem Begriff der Lebensqualität versammeln.
Der verwundbare Mensch
Wolfgang Herrndorfs Bestseller „Arbeit und Struktur“ ist nur ein Beispiel für jene Werke der Kunst, die in den letzten Jahren diese Erfahrungslagen vorweggenommen haben. „Halt auf freier Strecke“ nannte Regisseur Andreas Dresen seinen Kinofilm, der ebenfalls 2011 das Schicksal eines an einem Tumor final erkrankten Mannes thematisierte. Unter dem Titel „So schön wie hier kann’s im Himmel gar nicht sein“ publizierte Christoph Schlingensief bereits 2009 das Tagebuch der Krebserkrankung, der er ein Jahr später erliegen sollte. Der verwundbare Mensch: Die Konsum- und Erlebnisgesellschaft hat dieses aus ihrer Sicht heikle Thema ausgelagert. Krankheit und Tod sind delegiert an das System der Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen, Body Shaping und Schönheitschirurgie hingegen an eine hochtourig laufende Wellness-Industrie. In den Konsumgesellschaften zerfällt der Mensch in Zuständigkeitsbereiche, die den Körper jeweils anders adressieren – als Gegenstand erhaltender Pflege oder als Objekt einer perfektionierenden Optimierung.
Handfeste Kunstskandale
Mit der Corona-Epidemie bricht dieses Modell zusammen und alles, was zu ihm als Erwartungshorizont eines Lebens in westlichen Industriegesellschaften gehört. Das Virus holt uns, so scheint es, in eine unausweichliche Perspektive zurück – die der Sterblichkeit und ihrer mentalen und moralischen Bewältigung. Künstler haben diese Perspektive immer herausgestellt, auch um den Preis handfester Skandale, an denen sich immer wieder ablesen lies, wie sehr sie mit ihren Werken zum Thema Sterblichkeit provozierten.
Kritik an der Konsumgesellschaft
„zeige deine Wunde“: Der Titel der Rauminstallation von Joseph Beuys liest sich im Rückblick wie die Empfehlung eines Verhaltens, das in einer Leistungs- und Konkurrenzgesellschaft tunlichst zu unterlassen ist. Man zeigt keine Schwäche, oder? Beuys machte aus dem Hinweis auf die Wunde ein Stärke, gerade deshalb, weil er mit seinem Werk 1975 zum Zeitpunkt von Ölkrisen und Rezession auf die Anfälligkeit der vom Öl abhängigen Industriegesellschaften verwies. picture alliance / dpa Das Werk "Zeige deine Wunde" von Joseph Beuys ist im Lenbachhaus in München (Bayern) zu sehen. Foto: Felix Hörhager/dpa
Kritik am Kunstkauf
Der Ankauf des Werkes für das Münchener Lenbachhaus markiert 1979 einen handfesten Kulturskandal. 270000 DM für Bahren, Kreidetafeln und Reagenzgläser: Die helle Aufregung um den seinerzeit astronomisch hohen Ankaufspreis verdeckte das eigentliche Skandalon: das Thema der Sterblichkeit, das Beuys für viele Betrachter wohl viel zu suggestiv und intim inszeniert hatte. „zeige deine Wunde“ erweist sich aber im Rückblick als prophetisches Werk, weil es eine Erfahrung formuliert, die heute, in Corona-Zeiten, allgemein geworden ist.
Die Sicherheit ist weg
Das Virus hat uns Sicherheit genommen, auch jene Sicherheit, mit der wir gewohnt waren, den eigenen Körper als meist integres Haus unserer Identität und Selbsterfüllung anzusehen. Die Corona-Krise macht Zukunft noch unberechenbarer, als sie es durch die Erfahrung des Terrorismus und die Aussicht auf eine mögliche Klimakatastrophe ohnehin schon geworden ist. Eine unberechenbare muss aber keine schlechte Zukunft sein. Wolfgang Herrndorf beschreibt in seinem Blog „Arbeit und Struktur“, wie die Erkrankung seine literarische Produktion antreibt. Produzieren und dadurch vernehmlich werden, gerade unter den Bedingungen eines sich verengenden Horizonts – das hat schon der 1990 an seiner Aids-Erkrankung verstorbene Graffiti-Künstler Keith Haring vorgelegt. „Schweigen = Tod“: Diesem Slogan lebte Haring selbst nach, als er noch als final Geschwächter nach einem Stift verlangte, um mit dem Baby im Strahlenkranz sein Signet zu zeichnen – und ein Zeichen der Hoffnung dazu. "Wir sind wunderbar"
Christoph Schlingensief hat seinem Erschrecken angesichts katastrophaler Diagnose große Hoffnung entgegengesetzt. „Wir sind ganz einfach wunderbar. Also lieben wir uns auch mal selbst. Gott kann Besseres nicht passieren“, reagierte der Aktionskünstler auf sein nahes Ende. Im Rücken der Bedrohung durch das Corona-Virus kann jetzt wieder Hoffnung entstehen. Diese Hoffnung richtet sich vor allem darauf, aus dem Bewusstsein der Angreifbarkeit neue Stärke zu beziehen. Sie heißt Bejahung und Solidarität. Und Intensität. Sie sei „das einzig Gute an der ganzen Sache“, sagte damals der todkranke Keith Haring.
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