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Trotz rekordhoher Teuerungsraten zögert die EZB, die Geldpolitik zu straffen. Aus der Währungsunion droht eine Inflationsunion zu werden. Der Euro könnte dadurch seine Geldfunktion verlieren. Eine Analyse.
...Wer... gehofft hatte, dass Christine Lagarde, die Chefin der Europäischen Zentralbank (EZB), zum Osterfest die Sparer in Europa zumindest mit einem klaren Hinweis auf ein baldiges beherztes Eingreifen der Notenbank gegen die hohe Inflation beschenkt, wurde bitter enttäuscht. Statt einem geldpolitischen Osterei gab es für die Sparer nur verbales Herumgeeiere von Lagarde.
Die EZB befinde sich „auf einer Reise“, sagte Lagarde auf der Pressekonferenz nach dem Treffen des EZB-Rats am Donnerstag auf die Frage eines Journalisten, warum die Notenbank trotz der hohen Euro-Inflation von mittlerweile 7,5 Prozent die Geldpolitik nicht schleunigst straffe. Mit der Metapher von der Reise beschrieb Lagarde den langen Weg der Notenbank von einer ultralockeren hin zu einer weniger lockeren Geldpolitik. Die EZB werde ihre Reise in Schritten absolvieren, erklärte Lagarde. Der jüngste Schritt sei die Erkenntnis der Notenbanker, dass es vermutlich sinnvoll ist, das Anleihekaufprogramm (APP) im dritten Quartal dieses Jahres einzustellen.
Wann genau die APP-Käufe enden, ob im Juli oder erst im September, wollte Lagarde nicht sagen. Das hänge von der weiteren Entwicklung der Konjunktur, dem Ukraine-Krieg, den Lieferengpässen und den Verbraucherpreisen ab.
Und wie steht es mit höheren Leitzinsen? Die gibt es erst „einige Zeit“ nach dem Ende der APP-Käufe, schreibt die EZB in ihrer Pressemitteilung. Wobei „einige Zeit“ einige Wochen aber auch einige Monate bedeuten kann, wie Lagarde auf Nachfrage ausführte. Beobachter rechnen frühestens für den September mit einer ersten kleinen Leitzinsanhebung von 25 Basispunkten.
Die Unentschlossenheit der EZB bei der Bekämpfung der Inflation, ihr Zaudern und Herumlavieren lassen Zweifel daran aufkommen, dass die Notenbank es ernst meint mit ihrem Mandat. Dieses besteht laut EU-Vertrag darin, die Preise in der Eurozone stabil zu halten. Angesichts einer Inflationsrate, die mittlerweile fast vier Mal so hoch ist wie der selbstgewählte Zielwert der EZB von zwei Prozent, wäre daher ein sofortiges Straffen der Geldpolitik geboten. Anleihekäufe beenden, Zinsen rauf – und zwar subito.
Doch statt zu handeln, beschwört die EZB die Risiken für die Euro-Konjunktur, die sich durch den Ukraine-Krieg und die globalen Lieferengpässe ergeben. Den Einwand, die EZB falle durch ihr Zögern weit hinter die US-Notenbank Fed zurück, die ihren Leitzins bereits angehoben hat und sich anschickt, demnächst ihre Bilanz zu verkleinern, wischte Lagarde mit der Bemerkung vom Tisch, die Lage in Europa ließe sich mit der in den USA nicht vergleichen, da der alte Kontinent stärker vom Ukraine-Krieg betroffen sei als Amerika.
Dass ausgerechnet die Länder im Osten Europas wie Polen, Tschechien und Ungarn, die besonders stark von dem Ukraine-Krieg betroffen sind, ihre Leitzinsen längst erhöht haben, und das gleich mehrfach, zeigt jedoch, dass sich die geopolitischen Verwerfungen und die daraus ableitenden Konjunkturrisiken nicht als Exkulpation für geldpolitische Prokrastination eignen.
Das Kernproblem der Eurozone ist, dass die EZB ihren gesetzlichen Auftrag vor zehn Jahren während der Eurokrise selbstermächtigend umgedeutet hat: Statt der Stabilisierung des Preisniveaus steht seither der Erhalt der Währungsunion in ihrer aktuellen Zusammensetzung ganz oben auf der Prioritätenliste der Notenbank, whatever it takes.
Solange die Preise unten blieben, konnte die EZB ihre neue Raison d`être kaschieren, der Öffentlichkeit vorgaukeln, im Zweifelsfall werde sie schon rechtzeitig einschreiten, um die Preise wieder einzufangen, wenn sie ins Laufen kommen.
Jetzt, da die Preise galoppieren, fällt der Schleier.Bürger und Unternehmern sind entsetzt, mit welcher Nonchalance die EZB die Gefahr einer sich verfestigenden Inflation abmoderiert. Indem sie bei Teuerungsraten von mehr als sieben Prozent – Tendenz steigend – die Hände in den Schoß legt und herumlaviert, offenbart die EZB, dass es mit der vielbeschworenen Stabilitätsorientierung bei ihr nicht weit her ist. Sie riskiert ihre Glaubwürdigkeit und forciert die Inflationserwartungen, die die Lohn- und Preisforderungen weiter nach oben treiben...
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