An kalten Herbsttagen bereut es Takaaki Sasaguchi, Bürgermeister von Maki, fast schon, dass er sich mit der Atomlobby angelegt hat. Mühsam wirft er den Gasofen an: Die Heizung seines Amtszimmers ist seit längerem kaputt, und Sasaguchis Gegner im Gemeinderat verweigern Geld für eine Reparatur. Damit rächen sie sich dafür, dass der Bürgermeister den Bau eines Kernkraftwerks in dem 30 000-Einwohner-Ort an der japanischen Westküste blockiert.
Doch der widerspenstige Bürgermeister lässt sich nicht einschüchtern. Seit Nippons bislang schwerstem Atomunfall in der Uranverarbeitungsanlage von Tokaimura, bei dem Ende September mindestens 96 Menschen verstrahlt wurden, erhält der Rebell aus ganz Japan zustimmende Post.
Vor drei Jahren setzte Sasaguchi als erster Ortschef Japans einen Bürgerentscheid gegen den geplanten Meiler durch. Damit die Regierung das öffentliche, aber nicht bindende Votum nicht unterläuft, verkaufte er Teile des vorgesehenen Baugrundstücks an Atomkraftgegner.
* Nach dem Unfall in Tokaimura.
Seit der Katastrophe von Tokaimura wächst der Unmut über Nippons ehrgeiziges Atomprogramm. Zwar hält die Regierung an ihrem Plan fest, bis 2010 zusätzlich zu den 52 aktiven Atommeilern weitere 20 Anlagen zu bauen. Aber immer neue Enthüllungen über den schlampigen Umgang mit der riskanten Technik erschüttern Japans Energiekonsens.
Der Schock sitzt tief. In Tokaimura hatten drei Arbeiter eine unkontrollierte nukleare Kettenreaktion ausgelöst, als sie per Hand 16 Kilogramm Uran - statt erlaubter 2,4 Kilogramm - in einen Behälter füllten. Mehr als 310 000 Japaner wurden aufgefordert, ihre Häuser nicht zu verlassen. Erst nach 20 Stunden bekamen die Betreiber den Unfall notdürftig unter Kontrolle.
Vor einem Monat lieferte die Regierung dann selbst den Beweis dafür, dass die Havarie von Tokaimura mehr als ein unglücklicher Zufall war. Hastig hatte das Arbeitsministerium Inspektionen anberaumt. Das erschreckende Ergebnis: Von 17 Firmen zur Herstellung von Nuklearbrennstoff verstieß jede zweite gegen gesetzliche Sicherheitsbestimmungen.
Jahrelang kontrollierten die Behörden nur halbherzig die Nuklearanlagen, die häufig auch noch in Wohngebieten liegen. Erst durch Presseberichte kam ans Licht, dass einige Atombetriebe obdachlose Tagelöhner als Putzkolonnen anheuerten - offenbar teilweise unter Missachtung der zugelassenen Strahlenbelastung. Mit dem Versprechen guter Bezahlung verfrachteten sie die Ahnungslosen aus Tokio mit Bussen nach Tokaimura.
Mitte November debattierte Japans Parlament über einen Gesetzentwurf, der Lücken im Sicherheitsnetz schließen soll. Doch wachsende Zweifel am Sinn der Kernenergie lassen sich damit kaum ausräumen. Eine Serie von Störfällen und fahrlässigen Pannen in Nuklearbetrieben und Kernkraftwerken bringt Japans Atomwirtschaft in Verruf:
* Im Dezember 1995 wurde der Schnelle Brüter "Monju" abgeschaltet, als über eine halbe Tonne des leicht entzündlichen Kühlmittels Natrium aus einer Rohrleitung leckte.
* 1997 wurden in einer Wiederaufarbeitungsanlage in Tokaimura 37 Arbeiter verstrahlt.
* Allein von April 1998 bis März dieses Jahres ereigneten sich in japanischen Atomanlagen 52 Störfälle - 14 davon waren meldepflichtig.
Häufig vertuschen die Betreiber das wahre Ausmaß der Pannen. In "Monju" manipulierten sie Videoaufnahmen, beim Tokaimura-Unfall von 1997 fälschten sie Zeitangaben. Während im Juli dieses Jahres Kühlwasser im Kernkraftwerk Tsuruga aus den Rohren leckte, führten die Betreiber unbekümmert noch 90 Besucher durchs Werk.
Rund 70 Prozent der Japaner zweifeln inzwischen an der Sicherheit ihrer Kernkraftwerke. Und hilflose Beschwichtigungsversuche der Regierung schüren das Misstrauen noch. Wenige Tage nach dem jüngsten Unfall eilte Premier Keizo Obuchi nach Tokaimura, um vor laufenden Kameras tapfer ein Menü aus Sushi, süßen Kartoffeln, Melonen und Reis - allesamt Produkte der Unglücksregion - zu verspeisen. "Lecker, lecker", befand er lächelnd und schlürfte dann noch rasch ein Glas heimischer Milch.
Dabei lassen sich die langfristigen Folgen der Gamma- und Neutronen-Strahlung auf die Opfer von Tokaimura noch nicht absehen. In Tokio kämpfen Ärzte nach wie vor um das Leben eines der schwer verstrahlten Nukleararbeiter. Als Professor Satoschi Kimura von der Uniklinik Tokio die Gene seines Patienten im Mikroskop untersuchte, war er entsetzt: "Die DNS war in kleinste Teile zerhackt."
So naiv wie Mitte der fünfziger Jahre dürften sich Japaner kaum mehr für die Atomkraft begeistern lassen. Damals schworen Parteien, Industrie und Presse die Nation mit einer gezielten Kampagne auf die strahlende Energie ein. Mit Hilfe von "Pluto", einer lustigen Comic-Figur, bemühten sie sich, ihre Landsleute von der so genannten "Atom-Allergie" - ausgelöst durch die Bombenabwürfe auf Hiroschima und Nagasaki - zu kurieren.
Die Atomlobby appellierte vor allem an die traumatische Angst der rohstoffarmen Industrienation, von der Energiezufuhr abgeschnitten zu werden. Noch heute rechtfertigen viele Japaner den Überraschungsangriff auf Pearl Harbor 1941 damit, dass das Kaiserreich durch das Öl- und Rohstoff-Embargo der USA in die Ecke gedrängt worden sei. Ab 1973 bestärkte der Ölschock die Japaner in ihrem Kurs: Ungerührt durch die ausländischen Atomunfälle in Three Mile Island und Tschernobyl, bauten die Japaner gut ein Zehntel aller Atomkraftwerke der Welt in ihrem erdbebengefährdeten Inselland.
Vor allem in bevölkerungsarmen Gebieten an der Westküste pflasterten Konzerne einst idyllische Strände mit Reaktoren voll. Die meist überalterten Gemeinden begrüßten die Atommeiler als Segen, denn
* Bei der Stimmabgabe für das Referendum über das geplante Kernkraftwerk in Maki am 4. August 1996.
die Strombosse spendierten ihnen neue Rathäuser, Altersheime und Straßen.
Im Filz von Beamten, Bürgermeistern und Betreibern existiert in Japan praktisch keine unabhängige Atomaufsicht. So entsandte das Ministerium für Internationalen Handel und Industrie (Miti) pensionierte Beamte auf lukrative Jobs in Atomfirmen. Auch Toshiki Takagi, bis Ende Juni Präsident der Unfall-Firma JCO in Tokaimura, stieg einst als "Himmelsbote" ("Amakudari") vom Miti herab. Dagegen zersplittert der Protest gegen die Kernkraft auf lokaler Ebene; eine landesweit organisierte Anti-Atombewegung fehlt in Japan fast völlig.
Über 35 Prozent seines Stroms bezieht Japan aus der Kernspaltung. Gleichzeitig hat die Industrienation nach Schätzung von Greenpeace einen Plutoniumberg von 30 Tonnen angehäuft - genug für beinahe 4000 Atomwaffen. Den Stoff wollten die Japaner eigentlich in Schnellen Brütern verbrennen, einer unwirtschaftlichen und riskanten Technik, die sonst in der Welt kaum noch jemand verfolgt.
Weil aber die Entwicklung der Schnellen Brüter seit dem "Monju"-Unfall stockt, will Tokio den Bombenstoff jetzt in Gestalt von Plutonium-Uran-Mischoxid-Brennelementen (Mox) in konventionellen Meilern verfeuern.
Die Katastrophe von Tokaimura verzögerte diese Pläne weiter: Als erste widerrief die Präfektur Niigata ihre Zustimmung, Mox vom kommenden Jahr an im Kernkraftwerk Kashiwazaki verbrennen zu lassen. Aus Rücksicht auf Ängste der Bevölkerung wurde der Plan um ein Jahr aufgeschoben. Damit wankt ein zentraler Pfeiler des japanischen Nuklearprogramms.
Der Bau neuer Meiler scheint erst recht kaum noch durchsetzbar. Die Stromkonzerne suchen nach Auswegen: Sie wollen die Lebensdauer älterer Reaktoren, die ursprünglich nach 30 Jahren abgeschaltet werden sollten, durch Instandhaltungsmaßnahmen auf 60 Jahre verdoppeln.
Auch die Suche nach Alternativen zur Kernenergie hat begonnen. Die Stromerzeugung durch Atomenergie sei "tot", urteilt das einflussreiche Magazin "Sentaku". Und Energieexperte Haruki Tsuchiya aus Tokio rechnet vor, dass Japan seinen Energieverbrauch durch neue Techniken und vermehrten Einsatz von Sonnen- und Wasserenergie bis zum Jahr 2010 um 14 Prozent drosseln könne.
Zwar fördert Tokio erneuerbare Energien im Zuge des so genannten "Sonnenschein"-Programms. Doch dabei handele es sich nur um ein Feigenblatt für Nippons einseitige Nuklearpolitik, kritisierte Tadahiro Katsuta vom "Citizens'' Nuclear Information Center" in Tokio. "Bis zum Jahr 2010", rechnet er optimistisch vor, "könnte Japan den Atomausstieg schaffen."
Bislang fehlt Japans Atomgegnern indes eine mächtige politische Partei, die ihre Ausstiegs-Visionen unterstützt. Im Ort Maki richtet sich Bürgermeister Sasaguchi daher auf einen langen Kampf ein: "Erst wenn die Regierung uns von der Liste der geplanten Nuklearstandorte streicht, können wir aufatmen." WIELAND WAGNER
* Nach dem Unfall in Tokaimura. * Bei der Stimmabgabe für das Referendum über das geplante Kernkraftwerk in Maki am 4. August 1996.