Das hat auf den ersten Blick wenig zu tun mit Corona, aber es ist für das Verständnis, was wie zu interpretieren ist, trotzdem wichtig. Außerdem ist der Anfang einer trockenen Analyse allemal interessanter, wenn es um eine Geschichte geht. Also beamen wir uns mal um ca. 20 Jahre zurück.
Klein Lumpi sitzt da in seinem neuen Büro und soll ein System entwickeln, das u.a. auch in japanischen Autos funktionieren soll. Wie es das Leben so will, tut es aber genau das nicht. Keiner weiß genau, wieso nicht. Zuerst haben es die gutgläubigen Amerikaner gemerkt, nachdem sich Kunden massiv über augenscheinlich lebensbedrohliche Ausfälle beschwert hatten. Die Tests laufen Tag und Nacht, die Versuchsingenieure sind in Tag- und Nachtschichten eingeteilt. Der Fehler will sich aber ums Verrecken nicht outen. Jetzt steht die Tokyo Motor Show an. Damit verbunden ist ein 1-wöchiger Besuch beim japanischen Entwicklungspartner. Der steht kurz vor der Serieneinführung des Systems und hat die Fehler in seinen Tests natürlich längst festgestellt. Er ist nervös und hatte die versprochenen Verbesserungen mit neuen Prozessoren sehnsüchtig erwartet. Wir haben sie ihm einige Wochen zuvor geliefert, obwohl er von Anfang an berechtigte Zweifel an dieser Lösung angemeldet hatte. Kurz vor dem Abflug werden unsere Testreihen fertig und die Katastrophe ist perfekt, die Abstellmaßnahme ist ein Schuss ins Rohr. Die Dinger fallen im Temperaturwechsel aus wie die Fliegen.
Cut - Rewind 2 months
Es ist 11 Uhr abends, Lumpi im Büro, das Krisenmeeting bei Ford vorbereitend. Immerhin leitet das der Entwicklungsvorstand und Lumpis Unterhose ist etwas feucht, wenn er daran denkt. Scheiß drauf, es gibt ja immerhin einen Bierautomaten im ersten Stock (sic!). Da klingelt das Telefon, der Entwicklungsleiter aus Japan ist dran. Wieso der um 11 Uhr abends anruft, habe ich erst viel später verstanden, damals war das ein Spacko für mich. Wir machen small talk, er entschuldigt sich und fragt scheinheilig, wie es sein kann, dass in D um diese Uhrzeit noch jemand arbeitet. Ich versichere ihm, dass ich der Einzige und nur zu doof bin, meinen Job in der Regelarbeitszeit zu machen. Er gibt sich damit zufrieden und fragt nach den Testergebnissen. Ich sage ihm, dass alles planmäßig verlaufe, obwohl die ersten Ausfälle schon da waren, was ich ihm aber verschweige. Er schlägt den workshop um die Tokyo Motor Show herum in Japan vor. Ich willige ein.
Cut - fast forward 3 months
Die TMS ist vollkommen irre. Nach heutigen Maßstäben sowieso. Die Mädels haben einen Gürtel als Rock. Die Böcke sind nicht an den Autos interessiert, sie wollen eigentlich nur die Mädels fotografieren, am besten von unten. Aber wer will es ihnen verdenken? Hammer! Irgendwie gefällt mir Japan besser, als es der Kontakt mit den radebrechenden Ingenieuren vermuten ließ. Die Show geht vorüber und ich fahre per U-Bahn und Zug zu unserem Entwicklungspartner. Ich lerne zum ersten Mal, was rücksichtsvolles Gedränge und vor allem Pünktlichkeit bedeutet.
Wir kommen an und haben mit dem Verlassen des Zuges einen ständigen Begleiter. Er ist Ingenieur, verheiratet, 2 Kinder, super nett und er ist der Sklave des Entwicklungsleiters. Er schleppt unsere Koffer, holt uns vom Hotel ab, d.h.er wartet in der Lobby 30 min. vor dem vereinbarten Zeitpunkt und er bringt uns spät abends nach dem Restaurant wieder zurück. Er wird die nächsten Tage nicht nur unsere Taschen, sondern auch die seines Chefs tragen. Er wird den Stuhl seines Chefs zurechtrücken, bevor der sich setzt, er wird alles machen, was notwendig und geziemend ist.
Diese Woche war die größte Demütigung meines Lebens. Tagsüber - von 8 bis 8 - wurden wir fachlich regelrecht demontiert. Es war eine 1 Mann show, in der uns der Entwicklungsleiter jede Sekunde spüren ließ, welch erbärmliche Kreaturen wir sind. Anfangs konnten wir ihm noch halbwegs etwas entgegensetzen, aber er hat unsere Wissensgrenzen geschickt ausgetestet. Das ging über Weibull und statistische Versuchsplanung bis zum Integrieren und Differenzieren, wo er absichtlich Deppenfehler eingebaut hatte, um uns zu testen. Abends dann das Entspannprogramm mit Essen im Séparé und 2 stummen Bedienungen in den Ecken. Da ersetzte der Entwicklungsleiter das Fachliche gegen das Philosophische und wollte plötzlich über Kant, Heidegger, Nietzsche & Co. diskutieren. Anschließend das Schnelltrinken in der Bierbar. Als wir grade warm waren, haben die Japaner uns zu verstehen gegeben, dass der Spaß gerade ein Loch bekommt und man das volle Bier stehen lässt, wenn es Zeit ist.
Am letzten Tag haben wir die Versuchseinrichtungen besucht und man hat uns die ganzen Ausfälle gezeigt. D.h. all das Palaver die Tage zuvor war nur Mittel zum Zweck. Und der war, uns unsere Erbärmlichkeit zu zeigen und für die Zukunft ein Exempel zu statuieren. In diesem Testlabor trat mir der Entwicklungsleiter gegenüber und sagte mir ins Gesicht: „You are not fair!“ Das ist für japanische Verhältnisse in etwa so schlimm wie eine Ohrfeige im Westen. Bumm! Ich war noch jung und es hat Jahre gedauert, bis ich wirklich alles kapiert habe, was da vor sich ging.
Cut - fast forward 4 months
Finnland, Polarkreis, Februar. Den Fehler hatten wir schließlich zusammen mit einem amerikanischen Griechen von Ford während Testfahrten in Schweden und Diskussionen über Atomenergie und Frauenfiguren gefunden. Jetzt galt es, das verbesserte System mit den Japanern in der Kälte des Polarkreises zu erproben. Die hatten neben ihrer Stammmannschaft aus Japan ihre europäischen Kollegen aus Belgien mitgeschickt. Alles lief hervorragend und jeder war zufrieden. Am Ende hat uns der Finne, der uns seinen Schuppen in der Prärie als Werkstatt vermietet hatte, zu einer snow mobile tour eingeladen. Der Guide fragte, wer schon mal gefahren sei bzw. wer in die Anfängergruppe wolle und wer in die Fortgeschrittenengruppe, weil es ja nachts durch den Wald ginge und durchaus gefährlich werden könne. Alle Belgier (ein witziges Völkchen) und alle Deutschen hoben die Hände für die Fortgeschrittenengruppe. Bei den Japanern starrten alle auf den betagten Chef. Der ließ über seinen Dolmetscher nachfragen, was denn der Unterschied sei. Es folgte eine Kanonade von Witzen, die der japanische Chef nur damit beantworten konnte, dass er sich und damit die ganze Gruppe für dieFortgeschrittenen anmeldete. Es kam, wie es kommen musste. Die Europäer kamen im Lappendorf an, die Japaner warteten ehrfürchtig hinter dem snow mobile, das der Chef im Wald gegen einen Baum gesetzt hatte.
Warum erzähle ich das? Wenn man Strategien und Daten aus unterschiedlichen Ländern vergleicht, muss man allergrößteVorsicht walten lassen. Wir neigen dazu, alles aus unserem Blickwinkel zu betrachten, aber der ist kulturell so auf uns geeicht, dass wir alles andere vergessen. Darunter kann sich mitunter die Wahrheit verbergen. Wer also Japan kritisiert, weil man dort eine Laissez faire Politik mit eingeschränkten Tests betreibt und nur im Mittelfeld der unterbelichteten Sterblichkeit liegt, der sollte einmal einen Blick auf die Todesopfer pro Million Einwohner werfen. Meiner Erfahrung nach ist in Japan der Zufall ein einsamer Geselle. ----------- Überall ist der Irrtum obenauf und es ist ihm wohl und behaglich im Gefühl der Majorität |