https://www.n-tv.de/wirtschaft/...ackten-Koffern-article25391895.html
Die deutsche Automobilindustrie warnt vor einer zunehmenden Verlagerung der Produktion ihrer Zulieferer ins Ausland. Autoexperte Dudenhöffer sieht die Lage ernst. Die zweite Abwanderungswelle in der Branche hat für ihn eine gefährliche Besonderheit: Der Standort drohe "auszubluten".
Es sieht nicht gut aus für die Automobilindustrie. Sollte die Politik nicht bald gegensteuern, befürchtet der Verband der Automobilindustrie (VDA) eine zunehmende Verlagerung der Zulieferproduktion ins Ausland. Abwanderung sei für die Unternehmen eine Option, weil sie mit ihren Produkten international wettbewerbsfähig seien, sagte VDA-Präsidentin Hildegard Müller der "Augsburger Allgemeinen". "Der Standort ist es derzeit für viele Unternehmen nicht."
Wie ernst ist die Lage? Die Krise durch den Wandel zur Elektromobilität stellt alle Unternehmen der Branche vor große Herausforderungen. Mit den Autoherstellern sind auch die Zulieferer in den Abwärtsstrudel geraten. Ob Continental, ZF Friedrichshafen, Bosch, Schaeffler oder Brose: Zehntausende Arbeitsplätze stehen auf dem Spiel. Und keine Woche vergeht ohne neue Hiobsbotschaften. Ist die nächste Eskalationsstufe nun der Verlust der Produktion in Deutschland?
Ferdinand Dudenhöffer sieht die Lage ernst. Der Standort Deutschland habe für die Branche dramatisch an Attraktivität verloren, sagt der Leiter des privaten Bochumer Instituts Center Automotive Research (CAR) im Gespräch mit ntv.de. Es sei jedoch nicht die erste Abwanderungswelle in der deutschen Autoindustrie. "Wir beobachten seit 20 Jahren eine Abwanderung aus Deutschland an billigere Standorte, vor allem durch die Osterweiterung der EU."
"Wir haben deutsche Autohersteller in Polen, Ungarn und Tschechien. Ford produziert seit zehn Jahren in Bursa in der Türkei", so der Branchenkenner. Schon damals seien die Zulieferer den Herstellern gefolgt. "Auch Bosch hat ein großes Werk in Bursa." Auch Autoexperte Frank Schwope weist darauf hin, dass es diese Verlagerungen ins Ausland seit Jahrzehnten gibt. Sie ließen sich "selten vermeiden", wie der Dozent an der Fachhochschule des Mittelstands Hannover Automobilwirtschaft gegenüber ntv.de sagt. Er sieht dafür auch hausgemachte Gründe: "Jahrelange Strukturanpassungen wurden nicht angegangen, auch weil Corona zu Verzerrungen und teilweise exorbitanten Gewinnen geführt hat."
Dudenhöffer befürchtet jedoch, dass die neue Abwanderungswelle, die sich seiner Meinung nach anbahnt, eine andere Qualität haben wird. Sie wird die deutsche Wirtschaft härter treffen... Er verweist dabei auf einen wesentlichen Unterschied zu vorherigen Standortverlagerungen: "Bei der ersten Welle sind die Entwicklungsabteilungen - das Gehirn der Unternehmen - in Deutschland geblieben", sagt Dudenhöffer. Heute sei das anders. Überall würden jetzt Entwicklungsabteilungen im Ausland aufgebaut.
Die Entwicklung wird laut Dudenhöffer auch vor anderen Branchen nicht Halt machen. Auch die Maschinenbauer, die die Anlagen und Maschinen für die Autoindustrie bauen, seien auf dem Rückzug. Die Gründe seien für alle Unternehmen gleich: "Deutschland versinkt im Sumpf: Wir haben Migrationsprobleme, Steuerprobleme, die teuerste Energie der Welt. Wir haben keine Strategie und machen bestenfalls kleine, kurzfristige Programme. Verlagerung wohin? Nach Europa, in die USA oder China?
Für den Autoexperten Schwope wäre eine erneute Abwanderung nach Ungarn, Rumänien, Bulgarien oder in die Türkei "nicht unrealistisch". Dudenhöffer hält dagegen Standorte in den USA oder China für attraktiver als Standorte in Osteuropa. China punkte vor allem bei der Digitalisierung. "Die Möglichkeiten, dort etwas zu entwickeln und neue Produkte herzustellen, sind um Lichtjahre besser als bei uns." Anders als die USA wachse China auch, weil es Geschäftsbeziehungen mit Afrika und anderen asiatischen Ländern pflege.
Die Einschätzung, China könnte ein mögliches Ziel sein, teilt Schwope nicht. Für ihn ist "die große China-Welle" aufgrund der Rahmenbedingungen "eher vorbei". Die USA stehen nach einhelliger Meinung der Experten noch unter Beobachtung. "Wenn ein Unternehmen ein neues Werk in Nordamerika plant, werden die USA durch Trumps Zollpolitik natürlich interessanter", räumt Schwope aber ein. BMW und Audi hatten Werke in Mexiko gebaut, um günstig für den US-Markt zu produzieren. Dieses Geschäftsmodell ist tot, wenn Trump seine Zollankündigungen für Mexiko wahr macht. Eine Neuausrichtung könnte notwendig werden.
Die USA hatten bereits mit dem Inflation Reduction Act und der milliardenschweren Förderung von Klimaschutztechnologien viele deutsche Unternehmen in die USA gelockt. Audi, BMW, Schaeffler, Siemens Energy, Aurubis: Die Liste deutscher Unternehmen, die im vergangenen Jahr große Investitionen in den USA angekündigt oder bestehende Standorte ausgebaut haben, ist lang. Laut einer Umfrage der Deutschen Industrie- und Handelskammer plante im vergangenen Jahr jedes zehnte Unternehmen eine Produktionsverlagerung in die USA.
"Das ist erst der Anfang des Exodus'", ist Dudenhöffer überzeugt. Die zweite Welle rolle an, aber keiner habe es bislang bemerkt. Dabei könnten die Folgen dramatisch sein: Deutschland droht "auszubluten", warnt er. Die Entwicklung umzukehren, den Standort wieder aufzubauen, werde "unendlich schwer". Ähnlich hatte sich kürzlich auch der Vorsitzende des oberfränkischen Automobilnetzwerks ofrCar e.V., Timo Piwonski, geäußert. "Man muss leider sagen, dass die Koffer gepackt sind und sich viele Unternehmen intensiv mit Abwanderung und Verlagerung von Produktionsprozessen beschäftigen." Auch er ist überzeugt: Wenn Unternehmen den Standort Deutschland verlassen, ist mit ihrer schnellen Rückkehr nicht zu rechnen...
...VDA-Chefin Müller mahnt dennoch schnelle Reformen an. Die neue Bundesregierung müsse die Wettbewerbsfähigkeit der Branche stärken. Ihr Argument: Wenn die politische Kurskorrektur ausbleibe, "werden die für die Transformation der Automobilindustrie notwendigen Investitionen zunehmend nicht mehr in Deutschland und Europa, sondern anderswo getätigt - mit entsprechend negativen Folgen für Wohlstand und Beschäftigung in Deutschland und Europa".
Die Industrieproduktion ist bereits rückläufig. Und im Ranking der Wettbewerbsfähigkeit ist Deutschland in den letzten zehn Jahren von Platz 6 auf Platz 24 abgerutscht. Die konkreten Forderungen des VDA für eine Trendwende lauten: günstigere Energie, ein wettbewerbsfähiges Steuer- und Abgabensystem, Bürokratieabbau und eine gute Rohstoffversorgung.
Ein Krisengipfel der Automobilindustrie brachte im September keine Ergebnisse. Die Gespräche mit Branchenvertretern werden fortgesetzt. Im Autoland Bayern, wo die beiden Weltmarken Audi und BMW ihren Sitz haben und die Branche insgesamt 140.000 Menschen beschäftigt, lädt die bayerische Staatsregierung am 2. Dezember zu einem Treffen ein. Die Bundesregierung hatte nach dem Septembergipfel angekündigt, aus ihrer Sicht geeignete Maßnahmen rückwirkend umzusetzen. |