Phantasie statt Fakten
Dass sich die amerikanischen Börsen nach ihren historischen Kursstürzen seit einigen Wochen erholen, mag für Anleger eine willkommene Trendwende sein. Für kritische Beobachter ist aber frustrierend zu sehen, dass die Rally nicht auf einer fundamentalen Erholung von Corporate America basiert, sondern auf reiner Phantasie – es scheint, die Wall Street hat gar nichts begriffen. In die aktuelle Krise sind die US-Konjunktur und die Börse bekanntlich gerutscht, weil zuviele Leute den Sinn für die Wirklichkeit verloren und sich an Träumen orientiert hatten. Auf der einen Seite waren es die Banken, die mit abenteuerlichen Kreditinvestitionen enorme Gewinne einfahren wollten, die letztlich nicht machbar waren. Auf der anderen Seite waren es die Anleger, die aufgrund schöngeredeter Bilanzen die Kurse immer höher trieben und irgendwann glaubten, die Aktien würden bis in alle Ewigkeit klettern. Dann war da der Verbraucher, der nicht nur ein Haus, sondern gerne auch eine Villa bewohnen wollte, auch wenn das Geld hinten und vorne nicht reichte. In den Neubau – eines der „McMansion“ in den Vororten amerikanischer Metropolen – hängte man sich Flachbildschirme, Wii-Stationen und andere Gadgets, vor das Haus stand der Spritschlucker, den man ebenso wenig bezahlen konnte wie den ganzen Rest der Oberschichts-Phantasie. Doch obwohl Verbraucher und Börse in den letzten Monaten schmerzhaft in die Realität zurückgeholt worden sind, wollen sie das alte Spiel doch nicht aufgeben. Auch in Zukunft scheint es an den Finanzmärkten nicht um Fakten zu gehen, sondern um Meinung, Stimmung, Phantasie – nicht Daten bestimmen den Kursverlauf, sondern was Analysten daraus machen. Eine interessante Statistik macht zur Zeit auf dem Parkett die Runde: Danach haben in der laufenden Ertragssaison 66 Prozent der Unternehmen die Erwartungen der Analysten übertroffen. Das ist mehr als in vergangenen Quartalen, in denen durchschnittlich 63 Prozent der Unternehmen besser abschnitten. „Was die Börse vor allem beeindruckt, ist, wie deutlich die Erwartungen oft geschlagen wurden“, bilanziert John Butters von Thomson Financial. Was die Börse hingegen völlig kalt lässt, ist, dass die Quartalsergebnisse der Unternehmen im S&P-500-Index um satte 35 Prozent unter den Zahlen des Vorjahres liegen. Das ist ein steiler Einbruch, und eigentlich sollte nun keine Rolle mehr spielen, ob Analysten vorab statt schlechter Zahlen eben noch schlechtere erwartet hatten. Aber genau das ist für Anleger entscheidend, was die Kursgewinne der vergangenen Wochen erklärt – und das Risiko, das damit verbunden ist. Denn auch in Zukunft bauen die Kurse auf Schätzungen und Meinungen und nicht auf Unternehmensdaten und einem angemessenen Vergleich mit dem Vorjahr. Analysten haben damit mehr Einfluss auf die Börse als die Manager, deren Unternehmen gehandelt werden. Genau dieses Ungleichgewicht hat in der Vergangenheit Kursphantasien und Abstürze ausgelöst – das Szenario droht sich zu wiederholen. |