Wahnsinn Steuererklärung
Zwei Dutzend Anlagen, 23 Gesetzesänderungen in zwei Jahren, 1 300 ungeklärte Verfahren: Ohne Berater haben Sie im Duell mit dem Fiskus keine Chance. Ein Lehrbeispiel.
PETER BRORS, DÜSSELDORF HANDELSBLATT, 22.3.2005
Der Brief des Finanzamts hatte es in sich. 14 589,11 Euro sollte Klaus Bogner* an Steuern nachzahlen, und das, bitte schön, binnen vier Wochen. „Ich dachte, oh Gott, dann bist du jetzt fast pleite.“
Was war geschehen? Bogner, 38, ein schlanker, mittelgroßer Mann mit vollem schwarzem Haar und unauffälliger Brille, hatte im Februar 2005 noch keine Steuererklärung für 2003 abgegeben. Der fest angestellte Diplom-Ingenieur einer Ford-Tochter, der sich nebenher als freischaffender Softwareberater verdingt, hatte es gehalten wie unzählige andere Deutsche auch. Erst wird das Unvermeidliche monatelang vor sich hergeschoben. Und dann, wenn die zweite Aufforderung im Briefkasten liegt, in aller Eile nach Feierabend oder am Wochenende durchgezogen. Doch seine Finanzbeamtin gewährte ihm keine zweite Chance. Als er auf die erste Mahnung nicht reagierte, schickte sie ihm kurzerhand einen Schätzungsbescheid. Darin rechnete sie den Gewinn seiner selbstständigen Arbeit aus dem Jahr 2002 um den Faktor vier hoch, stufte ihn nun als umsatzsteuerpflichtig ein und legte all das auch gleich für 2004 zu Grunde. „In diesem Moment war mir klar, dass es ohne Berater nicht mehr geht“, bekennt Bogner.
Und so sitzt er an diesem trüben Märztag nun erstmals im Büro eines Steuerberaters. Der heißt Michael Seifert, schreibt Ratgeber-Broschüren für den DIHK und bildet als Referent den eigenen Berufsstand aus. Gegen den 2003er-Schätzungsbescheid hat er Einspruch eingelegt. Und für 2004 will Bogner wissen: Was holt der Profi, den sich viele nicht leisten wollen oder können, noch alles raus?
Beim Ausfüllen der Formulare lassen sich beide über die Schultern blicken. Herausgekommen ist so ein mehrstündiges Fallbeispiel, das zeigt: Wer sich allein vorwagt, ist verloren. Selbst Steuerzahler mit akademischer Ausbildung und relativ harmlos klingenden Vorgängen haben ohne Hilfe keine Chance. Und verschenken oft viel Geld.
Ein Wahnsinn, der in diesen Tagen, wenn die Lohnsteuerbescheinigungen zurückkommen, Millionen Bundesbürgern droht. Ein Wahnsinn, weshalb Angela Merkel noch vor dem Jobgipfel beim Bundeskanzler auf eine „radikale Vereinfachung des Steuerrechts“ drängte. Weshalb Bundespräsident Horst Köhler in seiner jüngsten Grundsatzrede aus einer Studie des World Economic Forums zitierte, wonach das deutsche Steuerrecht in Sachen Effizienz bei 104 untersuchten Ländern Platz 104 belegt. Mantelbogen, 8.50 Uhr Grün. Überall dieses Grün. Kein helles Grasgrün, kein dunkles Tannengrün, eher ein schmutzig-graues Grün, ein Grün mit Schleier. Jeder kennt diese Bögen, das Hauptformular, den so genannten Mantelbogen, und seine Anlagen: die Anlage N, die Anlage GSE, die Anlage AV, die Anlage KAP, die Anlage L, die Anlage AUS, die Anlage SO, die Anlage FW. Über zwei Dutzend verschiedene Bögen hält das Finanzamt vor. Warum sie alle grün sind? Keiner weiß es. Nicht der Bund der Steuerzahler, nicht die Druckerei, die die Papiere herstellt. Und auch nicht das Finanzministerium: „Keine Ahnung, aber Grün ist ja die Farbe der Hoffnung“, versucht ein Ministerialer die billigste aller billigen Erklärungen.
Beim Mantelbogen 2004 hat diese Hoffnung genau 119 Zeilen. Bogner hat nun einen Kuli in der Hand und beginnt mit der Arbeit. Erst läuft alles glatt: Name, Adresse, Bankverbindung. Die Tücken lauern ab Zeile 29. Hier lernt der gemeine Steuerzahler, dass das Abgabensystem allein sieben Einkunftsarten unterscheidet: Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft, aus Gewerbebetrieben, aus nichtselbstständiger Arbeit, aus Kapitalvermögen, aus Vermietung und Verpachtung und die sonstigen Einkünfte. Bogner zögert: „Wo gehören denn meine EDV-Beraterumsätze hin? Ich habe ja kein Gewerbe angemeldet.“
Jetzt geht es Schlag auf Schlag. „Ausländische Einkünfte“. Keine. „Förderung des Wohneigentums“. Erst mal überspringen. „Einkommensersatzleistungen unter Progressionsvorbehalt.“ Wie bitte? Bogner nimmt die Brille ab. Reibt sich die Augen. Setzt die Brille wieder auf. Nimmt einen Schluck Wasser. Schiebt eine Hustenkamelle hinterher. Tippt sich mit beiden Zeigefingern an die Schläfen. Weiter in Zeile 40: „Aufwendungen für geringfügig Beschäftigte im Privathaushalt (Bescheinigung der Bundesknappschaft beifügen)“. „Das sind sicher die Ausgaben für die Putzfrau“, entfährt es ihm. Und es klingt irgendwie erleichtert, gerade so, als wäre er froh, mal etwas auf Anhieb zu wissen „Aber Bundesknappschaft. Hallo?“ Seifert: „Die stellt die Bescheinigung aus, dass die Putzfrau bei der Mini-Job-Zentrale auch gemeldet ist. Ohne den Schrieb kein Geld, immerhin 510 Euro weniger an Steuern.“ Bogner schüttelt noch den Kopf, da wartet schon Zeile 44: „Steuerermäßigungen bei Aufwendungen für die Inanspruchnahme haushaltsnaher Dienstleistungen“. „Wie? Nochmal die Putzfrau? Oder ist damit jetzt die Heizungswartung gemeint?“ „Vergessen Sie es einfach“, sagt Seifert.
Mit dem Finger fährt Bogner nun über den Bogen, eilig hinweg auch über Zeile 77 und den Terminus „Dauernde Lasten“. Der Berater fragt: „Wissen Sie, was das ist?“ Bogner wird rot, fühlt sich schon wieder „Ertappt!“. „Ist das wichtig?“ „Wenn mehrere hundert Euro für Sie viel Geld sind, dann schon.“
Vor zwei Jahren hatten Bogners Eltern ihm eine Wohnung übertragen. Dafür zahlt er seinem Vater nun 200 Euro im Monat. Das sind 2 400 Euro im Jahr, die, noch dazu voll abzugsfähig, bei einem Steuersatz von 35 Prozent 840 Euro ausmachen.
Als Seifert auf seinem Taschenrechner rumhackt, beginnt es draußen zu regnen. Der Mandant bittet um eine Tasse Kaffee. „Diese dauernde Last habe ich letztes Jahr nicht angegeben. Können wir das noch rückwirkend ändern?“ fragt er. Und stöhnt: „Wie soll man das eigentlich alles wissen, wenn man das nur einmal im Jahr macht?“
Tatsächlich muss, wer nur schon die „Dauernde Last“ wirklich begreifen will, den Paragrafen 10 fest im Griff haben, ein Vorschriftenmonster aus dem Berliner Gruselkabinett, das im Gesetz allein 117 Seiten füllt. Auch die Paragrafen 12 und 13, 16 und 22 sind bedeutsam, genau wie die Vorschrift 323 der Zivilprozessordnung. Und der wahre Lastenkenner muss auch noch Bescheid wissen über die „Abgrenzung zur Rente“, über „Taschengeldnebenleistungen“, „schädliche Änderungen“ und „variable Bemessungsgrößen“. Seifert: „Noch Fragen?“ Anlage N, 9.50 Uhr All das wissen kann ohnehin nur der, der das rote Buch hat und es auch versteht. Wobei der Begriff Buch stark untertrieben ist. Es ist eher ein Werk, wenn auch mit schlichtem Titel: „Einkommensteuergesetz (EStG) Kommentar“. Es stammt aus dem Hause C.H. Beck, ist fast sieben Zentimeter dick, wiegt mehr als ein Kilo und hat 2 512 Seiten. Für Experten ist es der Routenplaner durch den Steuerdschungel, einen Urwald, dem jedes Jahr unzählige neue Bäume erwachsen. Allein in dieser Legislaturperiode ist das EStG 23-mal geändert worden.
Steuerzahler Bogner indes kann an diesem Morgen erstmals verschnaufen. Es geht auf zehn Uhr zu. Jetzt sind die Einkünfte aus „nichtselbstständiger Arbeit“ dran. Das hört sich leicht an. Das rote Buch braucht es dazu im Moment nicht. Schnell die Angaben von der Lohnsteuerbescheinigung abgeschrieben. Fertig. Weil er weder in Belgien, noch in der Schweiz arbeitet, wo es, das suggerieren die Zeilen 13 bis 19, umfassend geregelte Doppelbesteuerungsabkommen gibt (Bogner ruft halb mitfühlend, halb spöttisch: „Die Armen“), fegt er über die erste Seite und landet bei den Werbungskosten: Kontoführungsgebühr, die 110-Euro-Pauschale für Arbeitsmittel, die Entfernungspauschale für die Wege zwischen Wohnung und Arbeitsstätte – all das kennt er. Kein Problem. So viel Spezialist ist er schon selbst.
Dass er bei den Fahrten ins Büro aber nicht unbedingt den kürzesten Weg angeben muss, sondern den, der für ihn in der Regel der schnellste ist, hört er indes zum ersten Mal. Genauso wie von den Tagegeldern für den Cebit-Besuch. Die hatte sich sein Arbeitgeber gespart, weil Bogner unzählige Kunden im Auftrag der Firma bewirtet hatte und sich so ja gleich mitverpflegen konnte. Laut Gesetz aber stehen ihm die Tagegelder trotzdem zu: Macht bei sechs vollen Messetagen 144 Euro und den Mandanten froh: „Gut, dass ich heute hier bin.“
Über 1 000 Euro hätte Bogner bis hierhin dem Staat bereits geschenkt, säße er wie in den letzten Jahren allein zu Hause. Das Engagement des Beraters beginnt sich zu rechnen.
Anlage GSE, 10.40 Uhr Immerhin sorgt das Steuerchaos dafür, dass wenigstens eine Branche boomt. Inzwischen umschwärmt eine regelrechte Industrie das Steuervolk. 65 282 Steuerberatern stehen 257 211 Finanzbeamte und Angestellte in den Ämtern gegenüber. Sie liefern sich heiße Schlachten, gerne auch vor Gericht. Allein vor dem höchsten deutschen Steuergericht, dem Bundesfinanzhof, sind sage und schreibe 1 300 ungeklärte Verfahren anhängig. Unzählige davon betreffen die Anlage GSE, also die Einkünfte aus Gewerbebetrieb und selbstständiger Arbeit.
Gleich das erste Feld kostet Nerven und vor allem Zeit. Dort steht lapidar „Gewinn“. Also: Bewirtungsbelege sortieren, Tankquittungen ordnen, Rechnungseingänge überprüfen. Denn: „Ohne detaillierte Gewinn- und Verlustrechnung geht hier gar nichts“, sagt Seifert.
Sieben Kunden hat Bogner 2003 nebenher betreut, aber nicht alle haben in diesen schweren Zeiten alles bezahlt. „Kann, muss oder soll ich die Kosten für speziell diese Aufträge jetzt auch gegenrechnen? Und wenn ja: In welcher Höhe“, fragt er. „Und was ist mit dem PC? Kann ich den abschreiben? Voll?“
Die Antworten auf all diese Fragen hätte er sich mit viel Recherche vielleicht noch selbst erarbeiten können, abends spät nach Feierabend oder am Wochenende, wo die Stunden eigentlich der Erholung oder der Familie gehören. Den irren Aufwand für Zeit, aber auch für Hilfsmittel wie fingerdicke Ratgeber oder aktuelle Steuersoftware hat das Rheinisch Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung auf durchschnittlich 1 036 Euro je Erklärung hochgerechnet.
In jedem einzelnen Fall ein kleines Vermögen. Und eine grandiose Verschwendung. Zumal es nicht einmal vor teuren Irrtümern schützt. Welcher Jungunternehmer beispielsweise hat schon einmal von der Sonderabschreibung für kleinere und mittlere Unternehmer nach Paragraf 7g EStG gehört? Anlage V, 13.35 Uhr Bogner jedenfalls nicht. Mittlerweile ist der Nachmittag angebrochen, jetzt wäre die Anlage V mit Einkünften aus Vermietung und Verpachtung dran. Bogner besitzt eine vermietete Eigentumswohnung. Nun würde es noch um den Aufwand für Warmwasser gehen, die Schornsteinfegerreinigung, die Hausbeleuchtung, die Müllabfuhr, die Grundsteuer und und und. Fast schon flehentlich bittet er: „Ich kann nicht mehr. Lassen Sie uns für heute abbrechen.“
Oder frei nach Ludwig Schmidt, dem Verfasser des roten Buches, der den Zustand des deutschen Einkommensteuergesetzes einmal so kommentiert hat: „Vergangenes Jahr standen wir noch vor einem Abgrund, dieses Jahr sind wir schon einen großen Schritt weiter.“
*Name von der Redaktion geändert.
MfG kiiwii
[Übrigens: In diesem Land sind 5.216.434 Menschen arbeitslos.] |