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Vielleicht muss diese Geschichte mit einer Treppe beginnen. Sie schraubt sich hinauf zum Turm der Stadtkirche von Bad Schmiedeberg. Es sind genau 187 Stufen, Heinz Stegert hat sie alle gezählt. Er steigt diese Treppe mehrere Male am Tag hoch. Er ist 53, ein wortkarger Mann mit zwei Händen, die es gewohnt sind, zuzupacken. Aber das Treppensteigen fällt ihm schwer. Er hat es mit der Bandscheibe. Er leidet unter Höhenangst. Doch er reißt sich zusammen. Vielleicht ist das seine letzte Chance.
Stegert steht auf dem Kirchturm und blickt auf seine Stadt hinab, mit einem Gesicht, das vor Kälte rot ist. Stegert ist Elektronikmeister, bis vor kurzem war er arbeitslos. Seit dem 1. Dezember jobbt er als Hausmeister in der evangelischen Kirchengemeinde. Als Erstes hat er einen Adventskranz auf dem Kirchturm installiert, vier Leuchten an jeder Ecke, in 64 Meter Höhe. Angeblich ist es Deutschlands höchster Adventskranz, aber der Grund, warum die ganze Republik derzeit auf den Ort schaut, ist ein anderer.
Als erste deutsche Stadt hat Bad Schmiedeberg Hartz IV abgeschafft – mit Ergebnissen, die wie ein Wunder wirken. Im September war jeder sechste Bewohner arbeitslos, die Quote lag bei 15,6 Prozent. Jetzt sind es noch 7,8 Prozent. Anfang nächsten Jahres soll sie weiter sinken, angepeilt werden drei Prozent. So haben sich das Reiner Haseloff und Rainer Bomba gedacht. Der eine ist in der CDU und Sachsen-Anhalts Minister für Wirtschaft und Soziales, der andere Regionaldirektor der Bundesagentur für Arbeit in Sachsen-Anhalt und Thüringen.
Bad Schmiedeberg ist ein kleiner Kurort in der Dübener Heide nahe der Lutherstadt Wittenberg. Wer das Ortsschild passiert, rollt auf einer huckeligen Straße vorbei an einer Kleingartenanlage, die „Frohes Schaffen“ heißt, um diese Jahreszeit aber ausgestorben wirkt. Eine Kirche, 4200 Bewohner. Die Straßen sind nahezu besenrein. Hinter jeder Ecke trifft man Menschen, mit orangefarbenen Westen über den Parkas.
Gerhard Bauermeister, genannt „Gockel“, wird das unheimlich. Bis vor kurzem traf sich an seinem Grillhähnchen-Imbiss vor dem Rathaus eine Clique von Hartz-IV-Empfängern. Jetzt bleibt „Gockel“ auf seinem Geflügel sitzen. „Meine Kunden“, seufzt der 56-Jährige, „sind alle im Forst.“
Rainer Bomba, dunkler Anzug, rote Krawatte, schwere Armbanduhr, dicker Siegelring, sitzt im Ratssaal von Bad Schmiedeberg und erklärt, wie er die Arbeitslosenquote halbierte, ohne einen einzigen Investor in den Ort gelockt zu haben. Alles begann Anfang November. Da teilte die regionale Arbeitsagentur den 331 Erwerbslosen des Ortes mit, dass sie zum 1. Dezember einen Job bekämen.
Seitdem erledigen selbst schwer vermittelbare Hartz-IV-Empfänger Arbeiten, die sonst keiner machen will. Sie säubern städtische Grünanlagen, sie üben das Krippenspiel mit Kindern in der Kirche ein, sie lesen Altenheimbewohnern Geschichten vor, sie bringen den Fuhrpark der freiwilligen Feuerwehr in Schuss. Und sie bekommen dafür Geld – im Schnitt monatlich 825 Euro brutto.
Statt Wohnungszuschüsse, Eingliederungshilfen und Arbeitslosengeld II jeweils direkt an die Betroffenen auszuzahlen, fließt das Geld in eine kommunale Gesellschaft. Sie stellt die Erwerbslosen dafür an, „marktfern“, „wettbewerbsneutral“ und „sozialversicherungspflichtig“, sagt Sachsen-Anhalts Wirtschaftsminister Reiner Haselhoff. Seiner Idee hat er einen wohl klingenden Namen gegeben: Bürgerarbeit.
Bevor Haseloff Wirtschaftsminister wurde, leitete er zehn Jahre das Arbeitsamt Wittenberg. Er meint, dass die Krux darin bestehe, dass der Staat die Folgen von Arbeitslosigkeit lediglich lindere, anstatt selbst Arbeitsplätze zu schaffen.
Das klingt nach ABM-Maßnahme oder Ein-Euro-Job. Reiner Haseloff widerspricht. Er sagt, eine ABM-Maßnahme koste den Staat 30 Prozent mehr. Ihr Erfolg sei aber fragwürdig, wie eine Bilanz der Arbeitsmarktreformen gerade ergeben habe. In der Tat bekommen die Leute bei der Bürgerarbeit weniger als bei einer ABM-Stelle. Ausgeglichen wird das möglicherweise durch einen psychologischen Faktor: Im Gegensatz zu ABMlern und Ein-Euro-Jobbern zahlen Bürgerarbeiter ihre Sozialabgaben selbst.
Von der Bürgerarbeit profitierten trotzdem alle Beteiligten, verkündet Rainer Bomba im Rathaus. Bad Schmiedeberg, eine Stadt, in der die Pro-Kopf-Verschuldung mit 2600 Euro doppelt so hoch ist wie im bundesweiten Durchschnitt, bekomme saubere Straßen und Grünanlagen, glücklichere Altenheimbewohner und reparierte Löschfahrzeuge. Und die Bewohner hätten endlich wieder das Gefühl, gebraucht zu werden.
Vorerst jedenfalls. Der Laborversuch ist auf ein Jahr befristet. Er soll von einem unabhängigen Forschungsinstitut evaluiert werden. Die Wissenschaftler sollen herausfinden, wie wichtig Arbeit für das Wohlbefinden der Menschen ist. Und was das für die Demokratie bedeutet.
In Bad Schmiedeberg will der Minister beweisen, dass der Staat an seinen Arbeitslosen sparen und das zugleich als Wohltat deklarieren kann. Wenn die Rechnung aufgeht, soll das Modell Bad Schmiedeberg flächendeckend eingeführt werden. Sachsen-Anhalt will dann 2007 eine entsprechende Initiative im Bundesrat starten.
Christoph Krause, Pfarrer der evangelischen Kirchengemeinde, sagt: „Mir wäre es peinlich, wenn ich einen Mann wie Heinz Stegert jahrelang unter diesen Voraussetzungen beschäftigen müsste. Der Mann hat zwei goldene Hände.“ Er würde eigentlich ein anständiges Gehalt verdienen. Doch das, muss der Pfarrer einräumen, könne ihm die Kirche nicht zahlen.
Im Landkreis Wittenberg kommen auf 300 offene Stellen 10 000 Bewerber. Darunter sind wohl auch jene acht Bad Schmiedeberger, die noch vor zwei Jahren als Angestellte der städtischen Gärtnerei öffentliche Grünanlagen in Schuss gehalten haben. Der Betrieb wurde geschlossen, die Arbeit erledigen jetzt Ein-Euro-Jobber.
Demnächst sollen die auch in das Programm „Bürgerarbeit“ aufgenommen werden. „Eine schöne Aussicht“, murrt eine 56 Jahre alte Ein-Euro-Jobberin, die vor dem Bahnhof die letzte Zigarettenkippe aufliest. Mit ihrem Job kommt sie auf 465 Euro im Monat, das Sozialamt zahlt zudem 300 Euro für die Miete. Macht unterm Strich 765 Euro. „Vom Bürgerlohn würden mir nur 600 Euro netto übrig bleiben“, rechnet die Frau vor. „Und davon müsste ich auch noch die Miete selber bezahlen.“
Rainer Bomba verkündet im Rathaus, die Bürgerarbeit solle Erwerbslose wieder motivieren, sich um einen Job in der freien Wirtschaft zu bewerben. Doch vielleicht liegt das Problem gar nicht an dieser Stelle. An Motivation scheint es den Menschen aus Bad Schmiedeberg nämlich gerade nicht zu mangeln.
Da ist Antje Litschewski, 28, gelernte Einzelhandelskauffrau im Zoohandel. 2001 wurde ihr Sohn geboren, seither hat sie keine feste Arbeit mehr und 20 Kilo zugenommen. Dabei, sagt sie, habe sie sich auch um Stellen beworben, die nicht ausgeschrieben worden seien. Eine Zeitlang hat sie beim Drogeriemarkt an der Kasse gejobbt, jetzt liest sie Alten und Dementen im örtlichen Seniorenheim Geschichten vor oder schmiert ihnen die Brote. Die Bürgerarbeit macht ihr Spaß, sie hofft, dass sie zum Sprungbrett für sie wird. Demnächst eröffnet ein neues Seniorenheim im Ort, dort will sie sich bewerben. Um einen regulären Job.
Heinz Stegert steigt die Treppe vom Kirchturm wieder herunter. Er sagt, der Job als Hausmeister sei wie ein Weihnachtsgeschenk gewesen. Er sei gerade dabei gewesen, seinen Hartz-IV-Antrag auszufüllen, als ihm das Angebot ins Haus geflattert sei. Stegert hat 30 Jahre lang als Elektronikmeister gearbeitet. Nichts fürchtet er mehr, als in eine Ecke mit jenen 30 Prozent aller Langzeitsarbeitslosen gestellt zu werden, von denen Reiner Haseloff sagt, sie müssten sich damit abfinden, dass sie nie wieder reguläre Arbeit finden. Dafür verzichtet Stegert auch auf Geld. Er sagt, in seinem Flur stapele sich schon wieder Baumaterial. Er sprühe vor Elan. „Meine Frau findet: Ich sei wieder ganz der alte.“ |