Brief von Gregor Gysi und André Brie an Oskar Lafontaine
Lieber Oskar Lafontaine,
um mit der Tür ins Haus zu fallen: Wir setzen uns mit diesem Brief nicht für eine wie auch immer geartete Regierungszusammenarbeit zwischen der SPD und der PDS auf Bundesebene ein. Wir halten auch Erwägungen über eine künftige Vereinigung für völlig falsch und unnötig, weil sie politisch und kulturell kontraproduktiv sind. Die Linke sollte in Anbetracht der sozialen und kulturellen Heterogenität der Gesellschaft differenziert organisiert bleiben. Wichtig ist uns, dass zentrale Fragen dieser Gesellschaft, des Lebens der Menschen, in den Vordergrund linker Debatten treten müssen.
Wir glauben, dass die unweigerlich großen gesellschaftlichen und politischen Veränderungen, die in der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union herangereift sind, prinzipiell unterschiedliche Antworten finden können. Verkürzt gesagt, geht es sehr wohl um die Alternative zwischen einer primär neoliberalen und weltmarktorientierten oder einer sozialen, solidarischen, ökologischen und demokratischen Modernisierung der Gesellschaft.
Wir haben in den vergangenen Jahren persönlich gute Erfahrungen im Gespräch, Kontakt und in der Zusammenarbeit mit Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten gemacht. Es ist an der Zeit, darüber zu reden, ob SPD und PDS in der Lösung dieser Aufgabe auch gemeinsame Verantwortungen und Möglichkeiten haben. Dabei sind uns die geschichtlichen und aktuellen Differenzen sehr wohl bewusst, und die ursprünglich gemeinsame Wurzel in der Sozialdemokratie August Bebels und Wilhelm Liebknechts mag heute aus unterschiedlichen Gründen nur noch eine geringe Rolle spielen.
Die PDS hat mit der diktatorischen Tradition des osteuropäischen Staatssozialismus gebrochen, einen demokratischen Wandlungsprozess vollzogen, dessen Ehrlichkeit und Verlässlichkeit wichtigen Proben stand gehalten hat, unumkehrbar, wenngleich bei weitem nicht abgeschlossen ist. Es bleibt eine beständige Aufgabe der PDS, der Partei, zu der wir gehören, sich konsequent mit den undemokratischen Teilen der SED-Geschichte und ihren umfassenden Folgen auseinander zu setzen. Dazu gehört auch die restlose Überwindung des so zerstörerischen und törichten Antisozialdemokratismus von KPD und SED. Wir wissen um die beispielhafte demokratische Tradition der SPD innerhalb der deutschen Parteienlandschaft, aber Sie werden verstehen, dass wir die Geschichte und Gegenwart der SPD auch nicht unkritisch sehen.
Von beiden Parteien hoffen wir, dass sie sich den grundlegenden Forderungen und Zielen der modernen internationalen sozialen Bewegungen und ihrem Anspruch öffnen: »Eine andere Welt ist möglich!«
Unserer Meinung nach ist die Zeit herangereift, die Möglichkeiten, Schwierigkeiten und politischen Inhalte einer Zusammenarbeit in Schlüsselfragen aktueller Politik und gesellschaftlicher Reformen offen zu diskutieren. Wir wenden uns an Sie, weil sich die gegenwärtig regierende SPD linken gesellschaftspolitischen Debatten eher verschließt und Sie es bekanntlich waren, der nicht gewillt war, einen neoliberalen Regierungskurs mitzutragen.
1. Sie, Oskar Lafontaine, und wir waren 1999 ebenso wie nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 überzeugt, dass Kriege die falsche Antwort sind. Niemand kann Sympathie mit dem irakischen Diktator Saddam Hussein haben. Aber ein Krieg gegen den Irak, auch noch unter Bruch des Völkerrechts, muss verhindert werden. Wir sind uns sicherlich einig, dass ein solcher Krieg die Pulverschnur in die explosivsten, eng mit einander verwobenen Regionen dieser Erde entzünden kann. Die Verhinderung dieses Krieges ist möglich. Doch es fällt uns nach den Erfahrungen der vergangenen Jahre schwer zu glauben, dass die aktuelle Regierungskritik am USA-Kurs über den Wahlkampf hinaus Bestand haben wird. Die militärische Dominanz der USA ist geschichtlich beispiellos und wird für eine imperiale Weltpolitik genutzt. Die US-Administration ist offensichtlich zu einem Amoklauf gegen das Völkerrecht sowie das Rüstungskontroll- und Abrüstungssystem entschlossen. Die Gefahren dieser Politik sind offensichtlich. Die »uneingeschränkte Solidarität« mit der USA-Politik durch die Bundesregierung war unter diesem Gesichtspunkt von Anfang an falsch. Es geht nicht um einen Antiamerikanismus, sondern um die Verteidigung und Stärkung des internationalen Rechts gegen den US-amerikanischen Sonderweg des Unilateralismus. Deshalb sind ein aktives gesellschaftliches Klima erforderlich und die Alternative einer echten gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik, eine außen- und sicherheitspolitische Emanzipation der EU. Beides sind Aufgaben größter Dimension. Wir meinen, dass SPD und PDS einen Beitrag dazu leisten können und müssen. Wir fordern dabei ausdrücklich unsere eigene Partei auf, sich prinzipiell zu einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU zu bekennen. Deren Verantwortung und Chance besteht nach unserer Überzeugung in der Stärkung kooperativer internationaler Sicherheitsstrukturen, in präventiver und primär ziviler Sicherheitspolitik, in Beiträgen zu einer nachhaltigen globalen Entwicklungs- und Demokratiepolitik, nicht im vergeblichen und die Gefahren nur vergrößernden Versuch, militärisch und militärpolitisch mit den USA mithalten zu wollen.
2. Wir haben in den vergangenen zwölf Jahren eine große Bereitschaft der gesamten Gesellschaft zur Solidarität mit dem Osten Deutschlands erlebt. In der Hochwasserkatastrophe jüngst ist sie wieder eindrucksvoll bewiesen worden. Doch entscheidende Probleme des Ostens sind trotz gewaltiger finanzieller Transfers ungelöst, viele Benachteiligungen nicht überwunden. Gemessen an eigener Wirtschaftskraft, Zurückdrängung der enormen Arbeitslosigkeit und Beseitigung aller Diskriminierungen muss bisher ein Scheitern der Anstrengungen festgestellt werden. Die vielfältigen Schwierigkeiten bei einer umfassenden Veränderung dieser Situation kennen wir. Doch das Ruder muss jetzt herumgeworfen werden. Die wirtschaftlichen Schäden und sozialen Verwerfungen drohen unumkehrbar zu werden. Wir meinen, dass es erstens endlich einen realistischen, aber relativ kurzfristigen Zeitplan für die vollständige Angleichung von Löhnen im öffentlichen und privaten Bereich, der Renten, der Zahlungen an Ärztinnen und Ärzte usw. geben muss. Angesichts der strukturellen Schwäche der ostdeutschen Wirtschaft wird das ohne staatliche Unterstützung nicht möglich sein, aber unserer Meinung nach letztlich die Wirtschaftskraft des Ostens stärken. Zweitens: Beseitigt werden müssen nun endlich auch alle Sondergesetze, die Ostdeutsche benachteiligen. Drittens müssen realisierbare Vorstellungen für eine deutlich gestärkte eigenständige Wertschöpfung in Ostdeutschland entwickelt werden. Viertens sollten wir gemeinsam dazu beitragen, das Miteinander in der Hochwasserkatastrophe zum Miteinander im gesellschaftlichen Alltag zu machen und kulturelle und andere Unterschiede als Bereicherung und nicht als Hindernis für das Zusammenwachsen unserer Gesellschaft zu achten.
3. Unser Gemeinwesen muss demokratisch und sozial gestaltbar bleiben. Es kann nicht dabei bleiben, dass der öffentlichen Hand in Kommunen, Ländern und Bund die finanziellen Mittel dafür fehlen. Die Bundesrepublik 2002 ist doch nicht ärmer als 1990 oder 1995, im Gegenteil. Wir sind mit Ihnen, lieber Oskar Lafontaine, einig, dass die anhaltende Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums von unten nach oben empörend und sozial und wirtschaftlich bedrohlich ist. Wir sehen die Vorschläge der Hartz-Kommission durchaus differenziert. Aber wir finden uns nicht ab mit der Grundtendenz – der Vermarktung der Arbeitskraft und dem massiven offiziellen Einstieg in den Niedriglohnsektor. Dazu können, dazu müssen Alternativen diskutiert, gesellschaftlicher Widerstand organisiert werden. Vielleicht ist die Idee einer Besteuerung der kurzfristigen internationalen Devisenumsätze (»Tobin«-Steuer) nicht oder nur schwer praktikabel, aber sollte sie nicht endlich ernsthaft geprüft und öffentlich erörtert werden? Volkswirtschaftlich muss doch zugunsten der Realwirtschaft offenkundig erreicht werden, dass die Verselbstständigung der internationalen Finanzmärkte eingedämmt und zugleich eine gerechtere und wirtschaftlich sinnvolle Verteilung der Finanzen realisiert wird. Auch dafür sind nicht nur Ideen und Entscheidungen, sondern das entsprechende gesellschaftliche Klima notwendig. Aus der Sozialdemokratie und ebenso aus der PDS kamen und kommen immer wieder Vorstellungen zur Wiedererhebung der Vermögenssteuer, zur Veränderung der Erbschaftssteuer. Es gibt sehr unterschiedliche Forderungen nach einer wirkungsvolleren ökologischen Umsteuerung. Sollten, könnten das nicht Felder einer praktischen Diskussion um Alternativen und um die Suche nach breiter gesellschaftlicher Unterstützung für dringende Reformen sein?
Es mag andere Themen und Probleme geben. Das muss offen sein. Wir jedenfalls wollen die Probe aufs Exempel. Wie groß sind unser jeweiliger Realismus, unsere Kompetenz, unsere Bereitschaft zu einer modernen sozialen Orientierung und einer ökologischen Erneuerung, wie groß sind unsere Fähigkeiten, die Beteiligung und die Akzeptanz der Gesellschaft für umfassende Reformen zu fördern?
Wir möchten uns für einen linken Aufbruch in der Bundesrepublik und in der Europäischen Union engagieren. Wir setzen unsere Hoffnung wesentlich in die internationalen globalisierungskritischen Bewegungen. Aber wir möchten uns auch dafür einsetzen, dass SPD und PDS fähig werden, in diesem Sinne strategisch zusammen zu arbeiten, ohne den Reichtum ihrer Unterschiede aufzugeben. Die PDS wird ihren gesellschaftlichen Zielen nur in Zusammenarbeit mit der Sozialdemokratie und den alten und neuen sozialen Bewegungen näher kommen können. Und die SPD, glauben wir, braucht die Herausforderung von links.
Mit herzlichen Grüßen
Gregor Gysi / André Brie
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