Viel wird über das Ausmaß von Wirecards Bilanzaufblähung spekuliert. Die Vermutung liegt nah, dass diese im Asiengeschäft geschehen ist, das ja laut Geschäftsbericht 2018 von einem dortigen Firmengeflecht aus 18 (von insgesamt 53) Tochterfirmen (s.u. S. 129 f.) getragen wurde.
Auch wer selten Bilanzen liest, dem ist vorstellbar, dass in den seitens Wirecard den EY-Prüfern vorgelegten Unterlagen zu diesem Teil des Firmengeflechts Umsätze und Gewinne nach oben manipulierbar waren. Als Motiv liegt nahe, dass mit den dargestellten steigenden Umsätzen Kaufinteresse an Wirecard-Aktien und ein damit steigender Aktienkurs hergestellt werden sollten. Von diesen Effekten haben Aktieninhaber profitiert, solange der Kurs stieg.
Nach den Berichten der Financial Times von Anfang 2019 und dem KPMG-Sonderbericht vom April 2020 fiel Anlegern die Einschätzung als Bilanzfälschung schwer, da es dem Unternehmen bereits in den vorhergehenden Jahren gelungen war, ähnliche Vorwürfe abzuweisen und sich der Aktienkurs jeweils wieder stabilisierte.
Als Kunde bin ich seit vielen Jahren Nutzer einer Wirecard-Zahlungsfunktion, dem Virtual Terminal, über das ich Kreditkarten-Zahlungen meiner Kunden in Höhe von durchschnittlich circa 100K/Jahr abgewickelt habe, die dann zu Anfang des Folgemonats (minus Abwicklungskosten von 2,5% + einer Grundgebühr) auf meinem Firmenkonto landeten.
Das lief gut bis April 2019, als Wirecard einige Kundenzahlungen nicht mehr abwickeln wollte (risk rejection) und mir dann fristlos und ohne Begründung kündigte. Am Telefon wurde angedeutet, der Grund sei Verdacht auf Geldwäsche durch wiederkehrende Kunden, was in meinem Geschäft nicht verwunderlich ist, da ich ausschließlich wiederkehrende Kunden habe. Es dauert dann 6 Monate und viel Aufwand, bis ich die letzten Kundengelder erhielt, immerhin einen 5-stelligen Betrag. Seit Anfang 2020 konnte ich das Virtual Terminal wieder nutzen.
Mich hatte im letzten Jahr der schlechte Umgang des Unternehmens mit mir als Kunden sehr gewundert. In heutigem Licht deutet er für mich darauf hin, dass Kundschaft nicht das Hauptgeschäft des Unternehmens gewesen sein mochte, sondern die Herstellung eines hohen Aktienkurses, für den zufriedene Kundschaft - ob nun in Deutschland oder anderswo - weniger wichtig schien.
Da ein Zahlungsdienstleister von Vertrauen lebt, kann ich mir eine Fortsetzung des Geschäfts von Wirecard nicht vorstellen. Zumindest ich, als relativ kleiner Kunde, würde von Wirecard keine Zahlungen mehr abwickeln lassen. Falls eine vertrauenswürdige Bank diesen Geschäftsteil von Wirecard übernähme, so wäre es etwas anderes. Ich kann mir aber vorstellen, dass es für Mitbewerber einfacher wäre, mit ehemaligen Wirecard-Kunden dieses Geschäft völlig neu aufzubauen, ohne dafür Kundenstamm, Technologie oder Mitarbeiter-Know-How aus der Insolvenzmasse von Wirecard zu kaufen.
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