Und noch nen Artikel...
Kaufen, wenn die Öffentlichkeit Aktien meidet – Verkaufen, wenn die Wirtschaft brummt
Börse ist der beste Frühindikator für Rezession und Aufschwung von ULF SOMMER Die Konjunktur bricht ein, doch die Aktienkurse steigen. Spielt die Börse deshalb verrückt? Keineswegs. Das zeigt ein Blick in die Geschichte. Er hilft Anlegern, künftige Auf- und Abschwünge an den Märkten frühzeitig zu erkennen. Jede Rally beginnt mit Pessimismus und jede Talfahrt mit Euphorie.
DÜSSELDORF. Bislang ist es den Börsen gelungen, jeden Konjunkturaufschwung vorwegzunehmen. In den vergangenen sechs Rezessionen erreichten die Aktienkurse vier bis acht Monate vor Beginn der neuen Wirtschaftsbelebung ihren Tiefststand. Das zeigt die Börsenhistorie und die Auswertung entsprechender Aufzeichnungen. Nach diesen Erfahrungen müsste in den USA frühestens im Januar 2002, spätestens aber im April, die Wirtschaft wieder an Schwung gewinnen – vorausgesetzt, dass die Kurse am 21. September dieses Jahres ihren tiefsten Stand erreicht haben und die bisherige Rally keine Falle der Bären ist.
Jedem Kurssturz geht eine Boomphase voraus. Dem Ende der „Golden Twenties“ folgte der Bankenkrach samt „Schwarzen Freitag“ und Weltwirtschaftskrise; dem Ende des Wirtschaftswunders in Deutschland der Börseneinbruch Anfang der 60er Jahre; und der Internet-Euphorie der jüngste Kurssturz an den Technologiemärkten.
Schwierig ist es, den Zeitpunkt für Börsenwenden zu erkennen. Doch auch hier hilft ein Blick in die Geschichte. Grob lässt sich der Kreislauf von Hausse und Baisse lässt sich in sechs Phasen einteilen.
(1) Jeder Börsenaufschwung beginnt nicht nach, sondern vor und zu Beginn der Rezession. Konjunkturdaten samt Frühindikatoren weisen nach unten, das Zinsniveau ist niedrig. Die Gewinne und Umsätze der Unternehmen gehen zurück. Zwar wagt sich kaum jemand an Aktien heran, doch angesichts einer vorangegangenen langen Börsenfalfahrt wird noch weniger verkauft. Die Folge: Die Aktienkurse steigen bei geringen Umsätzen. Wer Aktien hält, rechnet mit weiteren schlechten Nachrichten. Viel Pessismismus hat wenig Wirkung. Fast täglich warnen Analysten und Journalisten vor Rückschlägen und neuen Tiefstständen. Medien schreiben abfällig von der „Liquiditätshausse“, da nicht die Fundamentaldaten, sondern hohe „Cash“-Reserven die Kurszuwächse bestimmen.
So trieb während der Rezession 1993 allein die expansive Geldpolitik sowie die mangelnde Attraktivität festverzinslicher Wertpapiere die Anleger in Aktien zurück. Eine Studie des Investmenthauses Prudential zeigt, dass in Rezessionsphasen in den vergangenen 40 Jahren US-Aktienkurse in den ersten zwölf Monaten vor Beginn des Abschwungs um durchschnittlich 14 % einbrachen – in den darauf folgenden Monaten stiegen sie um 24 %.
(2) Die Unternehmensgewinne fallen nicht weiter, erste Frühindikatoren drehen ins Plus. Parallel zu der sich aufhellenden Stimmung steigen die Kurse – allerdings langsamer und weniger schwungvoll als in der vorangegangenen Phase.
(3) Erst wenn der Optimismus größer wird, die Unternehmensgewinne wieder steigen und Risiken nicht mehr offensichtlich sind, legen die Kurse kräftig zu. Jetzt geben Investmenthäuser die meisten Kaufempfehlungen heraus. Weniger als 15 % der Ratschläge lauten, eine Aktie zu halten oder zu verkaufen. Die meisten Aktien wechseln jetzt in „zittrige Hände“, wie Altmeister André Kostolany sagte. Gemeint sind die Aktienkäufe vieler Anfänger. Die Banken gewähren gern Kredite für Aktien-Engagements. In Boulevardzeitungen und an Stammtischen genießt das Thema Aktien fast die gleiche Aufmerksamkeit wie Fußball. Hinzu kommt eine Flut von Neuemissionen, deren Börsenwert sich rasch vervielfacht.
(4) Obwohl die Unternehmensgewinne deutlich steigen und die Quartalabschlusses besser werden, erhöhen sich die Aktienkurse nicht weiter. Charttechnisch bilden sich bei vielen Werten „Doppelspitzen“, das heißt, die Kurse erreichen in zeitlichen Abständen gleich hohe Niveaus. Lediglich (Technologie-)Werte der zweiten und dritten Reihe legen noch zu. Den Markt erreicht jetzt nur noch wenig frisches Geld, denn fast alle sind investiert. Die Umsätze werden dünner. Die Kurse bröckeln ab, weil sehr wenigen Käufern etwas mehr Verkäufer gegenüberstehen. Analysten und Börsenmagazine raten zum Nachkaufen, weil sich die fundamentalen Bedingungen – Konjunktur und Firmenergebnisse – verbessern.
(5) Verfehlen einige Unternehmen die hohen Gewinnerwartungen, brechen die entsprechenden Aktienkurse und die der gesamten Branche ein. Geringe Anlässe führen zu prozentual zweistelligen Kursverlusten. Der Markt reagiert sensibel auf Äußerungen von Firmenchefs und Volkswirten, die eine vorübergehende Abschwächung der Konjunktur für möglich halten. Anleger haben das Gefühl, die Börse reagiert viel schlechter als es die Nachrichtenlage her gibt.
(6) Wenn die ersten Mutigen das Wort Rezession aussprechend, weil Frühindikatoren darauf hindeuten, sind die Börsen längst auf Talfahrt. Dem Abschwung folgt häufig der Ausverkauf und die Panik. Anlass sind herausragende Ereignisse wie Bankenzusammenbrüche, Unternehmenspleiten und (welt-)politische Entwicklungen.
So klar viele Kennzeichen sind, so schwierig ist es, das Ende jeder Etappe zu erkennen. So stieg der Neue Markt Ende 1999 und Anfang 2000 in Phase drei innerhalb weniger Monate um gut 5 000 Punkte. Auf der anderen Seite schienen im Jahr 2001 die Phasen vier und fünf mehrmals beendet und die „Panik“ oft erreicht zu sein. Schon im Januar 2001 waren sich viele Experten sicher, dass die Kurse weit genug gefallen seien. Doch zu den größten Verlusten kam es erst, als zusätzlich zu den Konjunktursorgen die Terroranschläge die Welt schockierten. Fast jeder Anleger erlag 2001 der Versuchung und stieg zu früh ein.
Der Artikel entstand mit Hilfe der Analyse zeitgenössischer Berichte, Aufzeichnungen des Börsenaltmeisters André Kostolany und der Charttechnik.
HANDELSBLATT, Donnerstag, 27. Dezember 2001 |