Willkommen im Wallstreet-Casino!
von Gordon van Tradehoven/ happyhotstock Was für eine irre Achterbahnfahrt war diese vergangene Börsenwoche! Montag der Zusammenbruch der fast schon mythisch zu nennenden Wallstreet-Institution Lehman Brothers mit dem offiziellen Gang in die Insolvenz (Chapter 11) – quasi über Nacht ein schockierender Totalverlust: vor einem Jahr noch bei Kursen über $60 notiert, schloss der Lehman-Kurs am Donnerstagabend bei unglaublichen $0,052!
Das ehemalige NYSE-Schwergewicht war zum Pennystock regelrecht zusammengeprügelt worden…
Zwischenzeitlich dann noch der Fastbankrott von Merrill Lynch, der aber wegen der Übernahme durch die Bank of America in letzter Minute noch abgewendet werden konnte. Ebenso der Beinahezusammenbruch des weltweit zweitgrößten Versicherers AIG, bei dem erneut der Staat durch Finanzspritzen in dreistelliger Milliardenhöhe gewaltig mithelfen musste, um den nächsten Super-GAU abzuwenden…
Begleitet wurde diese panische Wallstreet-Kakophonie von einem rauschenden Selloff an den Weltbörsen. Amerikas oberste Finanzaufsicht SEC wusste sich daraufhin nicht mehr anders zu helfen, als am Mittwoch, 17.09. über Nacht in Beisein von Vertretern der Regierung und der wichtigsten Investmentbanken eine Verschärfung der Short Selling-Regularien durchzusetzen (siehe news/sec-sagt-dem-shortselling-den-kampf-an.html ), die vor allem die illegale Variante des Naked Short Sellings fokussierte – die Folge am Donnerstag: eine Explosion des Dow Jones-Indexes, der von einem Intradayminus aus in den letzten 90 Handelsminuten plötzlich um mehr als 550 Punkte nach oben schoss und mit 3,85% im Plus schloss!
Wie war das möglich, nachdem der gefeierte Rettungsplan für AIG zunächst an der Wallstreet völlig verpufft war und im Gegenteil sogar zu weiter fallenden Kursen geführt hat???
Am Donnerstagnachmittag hatte die britische Variante der SEC, die Financial Services Authority (FSA), ein komplettes Verbot des Shortsellings von Finanzaktien an der London Stock Exchange (LSE) verhängt um so den Markt zu stützen. In den folgenden 3 Stunden verbreitete sich diese Nachricht natürlich auch in den USA – vorläufig noch ohne irgendwelche Effekte. Erst als etwa eineinhalb Stunden vor Handelsschluss das Gerücht in Umlauf kam, wonach auch die amerikanische SEC an einer gleichen Handhabung und damit einer Verschärfung der tags zuvor verabschiedeten Regelung arbeite, explodierten die Kurse! Insbesondere Finanztitel mit hohem Short Interest legten eine Rally sondersgleichen hin. So konnte die US-Bank Wachovia innerhalb von Minuten 50-60% gewinnen. Grund hierfür waren die plötzlich erfolgenden Shorteindeckungen, die nun aufgrund der neuen Nachrichtenlage erfolgten und eine ungeahnte Eigendynamik entwickelten.
Frühmorgens am Freitag war es dann schon offiziell: die Finanzaufsicht SEC verhängte für 799 Finanztitel ein vorläufig bis 02. Oktober befristetes Shortselling-Verbot! Der Dow Jones gewann daraufhin erneut über 3%, weltweit setzten Rallys bei Indizes und Finanztiteln ein.
Was ist nun von all dem zu halten?
Zweifellos ist das Shortselling in den letzten Jahren zu manch kriminellen Auswüchsen ausgeartet – in der Regel betraf dies aber vor allem die illegale Variante des Naked Short Selling (NSS), das einerseits von Hedge Funds, andererseits aber gerade auch von den Institutionen betrieben wurde, die nun durch die neuen Regelungen in Schutz genommen werden!
Viele dieser Finanzunternehmen haben die Subprimekrise und den Zusammenbruch der eigenen Branche durch ihr Gebaren schließlich tatkräftig miterzeugt. Dazu gehören auch viele Investmentbroker, bei denen es mittlerweile gehäuft Usus ist, die eingezahlten Gelder der Kunden zu leihen und damit Shortsellinggeschäfte zu tätigen. In dieser Hinsicht sollte man nicht allzu überrascht sein, wenn sich bald auch noch herausstellt, dass diese Gelder auch zum shorten der eigenen Aktie Verwendung fanden…
Trotzdem sollte man eines nicht übersehen: Geld konnte bisher auf zweierlei Weise an der Börse gemacht werden - durch das Setzen auf steigende und durch das Setzen auf fallende Kurse. Wer in der Vergangenheit auf fallende Kurse gesetzt hat in der Regel ebenso seine Hausaufgaben gemacht wie derjenige, der von Kursanstiegen überzeugt war – das zumindest war ein Teil des freien Marktes, der nun durch die verschärfte Regelung Gefahr läuft ad absurdum geführt zu werden.
Auch wenn man kein Freund des Short Sellings an sich ist – eines sollte man nicht vergessen:
Short Selling ist ein wichtiger Bestandteil eines funktionierenden freien Marktes. Jeder Aktie muss ein durch den Markt ausgelöster, selbstregulierender Mechanismus zu eigen sein, durch den im Falle einer Überbewertung korrigierende Kräfte einen fairen Marktwert herbeiführen können. Anders formuliert: die Shortseller sind ein notwendiger Teil zur Aufrechterhaltung des Kräftegleichgewichts im Markt. Der Ausschluss von Shortsellern wird nun zu einem inflationären Ansteigen der Kurse der entsprechenden Aktien führen, da es (vorläufig) niemanden mehr gibt, der einen inflationär angestiegenen Marktwert „rechtzeitig“ in Frage stellen kann.
Zugleich wird dem Markt dadurch natürlich auch Liquidität entzogen, denn das Kapital der Shortseller fehlt nun komplett! Auch die Absicherung des Risikos fallender Aktienkurse durch den Kauf von Puts wird durch das Radikalverbot obsolet. Wer es bisher über Puts vermeiden konnte, sich von fallenden Aktien im Depot zu trennen, wird nun umdenken und sich bei den geringsten Risikoanzeichen von seinem Aktienbestand trennen – was mittelfristig ebenso zu Lasten der Liquidität im Markt gehen kann.
Die nun bevorstehende Rally ist also äußerst janusköpfig: einerseits herrscht insbesondere in den Messageboards und Foren der Jubel darüber vor, dass es “endlich den Shorties an den Kragen” geht – andererseits darf man sehr gespannt sein was passiert, wenn diese künstliche Rally plötzlich ihr Ende findet und das massenhafte Realisieren von Gewinnen beginnt…
Dann werden sehr schnell die Käufer fehlen, die bisher bei fallenden Kursen immer durch die Shortseller existierten, die sich wieder eindecken mussten. Möglicherweise muss man gar nicht das Ende der Rally abwarten – es genügen auch schon die ersten negativen Nachrichten, die – gerade bei den Finanztiteln (!) – zu einem abrupten Umkippen der Stimmung führen können…
Im Extremfall stehen uns hier noch Kurseinbrüche von bisher ungekannten Ausmaßen bevor – denn wer ist schon bereit, in fallende Kurse hinein sein Depot zu bestücken. Fehlende Käufer im Markt aber bedeuten schneller und tiefer fallende Kurse.
Man darf auf die sich entwickelnde Dynamik in den nächsten Wochen jedenfalls sehr gespannt sein. Auf eine Volatilität wie man sie bisher nur von Pennystocks her kennt, sollte man sich jedenfalls auch bei Blue Chips schon einmal sicherheitshalber einstellen. Lehman Brothers haben schon einmal die Richtung am Freitag vorgegeben, in die es die nächsten Tage mit vielen Titeln gehen könnte – solange die Euphorie anhält!
Willkommen im Wallstreet-Casino!
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