Äthiopien | 11.09.2007Äthiopien feiert die Jahrtausendwende Großansicht des Bildes mit der Bildunterschrift: Feuerwerk und gute Vorsätze: Äthiopien feiert 'Y2K' Es wird ein Fest der Superlative: Knapp acht Jahre nach 'Y2K' wird nun auch in Äthiopien der Jahrtausendwechsel vollzogen. An guten Vorsätzen für das nächste Jahrtausend mangelt es den Äthiopiern nicht. Äthiopien nimmt auf dem afrikanischen Kontinent in vielerlei Hinsicht eine Sonderrolle ein. Als einziges afrikanisches Land wurde es nicht kolonialisiert. Hier steht die Wiege der Menschheit, hier wurde der erste Kaffeestrauch entdeckt und äthiopische Sprinter laufen der Weltkonkurrenz oftmals leichtfüßig davon. Auch beim Jahrtausendwechsel tanzt Äthiopien aus der Reihe: Am 11. September, an dem der Rest der Welt den Terroranschlägen in den USA vor sechs Jahren gedenkt, feiert Äthiopien den Beginn des dritten Jahrtausends. Zur Zeit dreht sich alles um diesen Tag, der einmal nicht im Zeichen von Krieg und Hunger, sondern von äthiopischer Gastfreundschaft stehen soll. Angesichts des angespannten politischen und wirtschaftlichen Klimas im Land fragen sich jedoch manche Äthiopier, ob das Geld für die gigantische Party nicht besser anderswo angelegt worden wäre. "Wir haben noch immer 1999" Dennoch: 80 Millionen Äthiopier fiebern - und Millionen mehr in der Diaspora - seit Monaten dem Jahrtausendwechsel entgegen. "Die 'Y2K'-Partys in Europa und den USA verpasst? Kein Problem – kommt nach Äthiopien, wir haben noch immer 1999". So wirbt das Land für seinen einzigartigen Kalender, der 13 Monate umfasst (12 mal 30 Tage und einmal 5 Tage) und dem gregorianischen, hierzulande gebräuchlichen Kalender um knapp acht Jahre hinterher hinkt. Kein Dorf, das nicht ein eigenes "Millenniumskommittee" gegründet und Aktivitäten auf die Beine gestellt hat. Die reichen äthiopischen Exilgemeinden in den USA haben zum Fest nagelneue orthodoxe Kirchen in Auftrag gegeben. Und in Addis sollen in einer von dem saudi-äthiopischen Multimillionär Scheich Al Amoudi eigens errichteten – und nach der Party wieder abgebauten - 10 Millionen Dollar teuren Festhalle amerikanische Top-Acts wie '50 Cent' und 'Beyoncé' auftreten.
Bildunterschrift: Großansicht des Bildes mit der Bildunterschrift: Äthiopien belegt auf dem Entwicklungsindex der UN den 170. von 177 Plätzen Seyoum Bereded, oberster Millenniumsbeauftragter Äthiopiens, verweist auf die Bedeutung der Feiern für das Land: "Sie sind sehr wichtig für unser Land, weil wir den Jahrtausendwechsel auf einzigartige Weise als einen Meilenstein und als eine Schwelle auf dem Weg in die Zukunft feiern." Dies sei eine einmalige Gelegenheit zu zeigen, wie weit das Land auf dem Weg hin zu einer Nation bereits gekommen sei - und was es noch zu tun gebe, um dauerhaften Frieden und Entwicklung zu gewährleisten, sagt Bereded. "Unser Ziel ist ein entwickeltes und friedliches Äthiopien für alle Äthiopier - insofern die besondere Bedeutung am Beginn des dritten Jahrtausends." Verbote und Versöhnungsgesten Doch wenige Tage vor dem Sprung ins 21. Jahrhundert hat die Feierlaune einige Dämpfer erhalten: Zunächst verbot die Verwaltung der Hauptstadt Addis Abeba einige der geplanten Open-Air-Partys. Auch der 10-Kilometer "Millenium-Run" mit 30.000 Läufern wurde vorerst gestrichen - im Land der Sprinterlegende Haile Gebreselassie ein Affront, zumal sich zahlreiche ausländische Topläufer angekündigt hatten. Viele Äthiopier munkeln, dass sich hinter der offiziellen Begründung "Sicherheitsbedenken" (gemeint sind terroristische oder politisch motivierte Anschläge) verbergen. Denn im Volk gärt es seit den brutal niedergeschlagenen Protesten gegen die manipulierten Parlamentswahlen 2005. Äthiopien gibt sich in diesen Tagen alle Mühe, sein Image als Hungerland und Liebling der Entwicklungshilfegeber durch das eines regionalen Großmauls zu ersetzen, das in Somalia einmarschiert und daheim die Opposition knebelt. Als Versöhnungsgeste hat die Regierung pünktlich zum Fest zumindest einen Großteil der inhaftierten Oppositionellen aus dem Gefängnis entlassen. Armut und Hyper-Inflation dämpfen die Feierlaune Hinzu kommen wirtschaftliche Probleme: Die Beamten sind mit der von der Regierung angekündigten Gehaltserhöhung von knapp 40 Prozent nicht zufrieden, da die seit Monaten galoppierende Inflation noch darüber liegt. Angesichts explodierender Preise haben viele einfache Äthiopier auf dem Land, aber auch in Addis Abeba, Mühe, das traditionelle Neujahrsessen und die Geschenke für Familienangehörige auf den Tisch zu bringen. Allein der Preis für "berbere", die feurig-scharfe Gewürzmischung, die jedes Gericht begleitet, ist in den letzten Monaten um ein Vielfaches gestiegen. Und der Stimmung nicht eben zuträglich ist die rabiate Aufräumpolitik der Stadtverwaltung, die im Vorfeld der feinen Partys Bettler von der Straße treibt und streunende Hunde erschießen lässt. In einem Land mit einem Pro-Kopf-Einkommen von 160 Dollar, das auf dem Entwicklungsindex der Vereinten Nationen den 170. von 177 Plätzen belegt, schwanken die Menschen zwischen dem Bedürfnis, ihr Land einmal nicht als Bittsteller, sondern als Jahrtausend alte Kulturnation zu präsentieren, und der Einsicht, dass das Geld für die Party besser in Schulen und Krankenhäuser investiert worden wäre. Da ist die Ankündigung der Regierung, öffentliche Parks nach den Namen von "Neujahrbabys" umzubenennen, nur ein schwacher Trost. Obligatorische Neujahrsvorsätze
Bildunterschrift: Großansicht des Bildes mit der Bildunterschrift: Kollektives Laster: die Droge Khat Selbst die obligatorischen Neujahrsvorsätze stehen in diesem Jahr im Zeichen der explodierenden Lebenshaltungskosten. In einem Kaffeehaus in Mekele im Norden diskutieren junge Männer, wie sie mit dem teuren Laster "Khat" brechen können, der "high" machenden Kaudroge, die zum Entsetzen der gestrengen orthodoxen Kirche in den letzten Jahren aus den Nachbarländern nach Äthiopien geschwappt ist und dort mehr und mehr Anhänger gefunden hat. Bisher sei es ihm schwer gefallen, mit dem Khat-Kauen aufzuhören, gibt ein Äthiopier zu. "Aber jetzt habe ich einen historischen Anlass - den Jahrtausendwechsel nämlich. Das wird auch meinem Portemonnaie zugute kommen." Dem Geldbeutel – vor allem aber dem Ansehen Äthiopiens auf der internationalen Politbühne und bei den Nachbarn sollen die Veranstaltungen dienen. Millenium-Cheforganisator Seyoum Bereded: "Äthiopien ist einer der Gründerväter der Organisation Afrikanischer Einheit." Hier sei die politische Hauptstadt Afrikas - mit der Afrikanischen Union. Äthiopien habe zudem viel zur Dekolonialisierung des afrikanischen Kontinents beigetragen und eine große Rolle im Sport und der Literatur gespielt, so Bereded. "Deshalb haben die afrikanischen Staatschefs auf ihrem jüngsten Gipfeltreffen unseren Jahrtausendwechsel als einen afrikanischen adoptiert."
Bildunterschrift: Großansicht des Bildes mit der Bildunterschrift: Viele Äthiopier müssen sich hoch verschulden, um den Jahrtausendwechsel zu feiern Die bei der Afrikanischen Union (AU) in Addis Abeba akkreditierten afrikanischen Botschafter – nur New York hat mehr Diplomaten an einem Ort versammelt - wird es freuen: Sie und ihre europäischen Kollegen werden das 21. Jahrhundert im piekfeinen Sheraton begrüßen - für 300 Dollar das Gedeck. Viele Äthiopier zwischen Axum und Awassa dagegen wachen im dritten Jahrtausend mit einem Kater auf – für die Feierlichkeiten haben sie sich über beide Ohren verschuldet. Ludger Schadomsky |