Kann man mit 345 Euro auskommen? Unser Reporter probierte es - und sprach mit Leuten, die schon lange mit sehr wenig Geld leben müssen Frank Nordhausen
BERLIN, im August. Nach zwei Wochen war es soweit. Ich ging über den Kollwitzmarkt, betrachtete die Auslagen, Serrano-Schinken, Mozzarella, eingelegte Tomaten und dergleichen. Ich wusste: Das geht nicht, das kannst du dir nicht leisten. Dafür reicht das Budget niemals. Es war der Moment, als das Experiment mich zu ärgern begann.
Seit zwanzig Tagen lebe ich von dem Geld, das der Staat einem Langzeitarbeitslosen in Zukunft noch zugesteht: 345 Euro im Monat. Ich will wissen: Reicht das zum Leben? "Unfug", sagte meine arbeitslose Cousine. "Sich mal drei Wochen einschränken, das kann jeder. Aber Tag für Tag? Ohne die Perspektive, dass es besser wird?"
Ich antwortete: "Okay, aber den Absturz aus einem guten Einkommen, der jetzt vielen blüht, den kann ich doch simulieren."
Ich habe jene empfohlenen 48 Euro abgezogen, die man sparen soll, falls die Waschmaschine nicht mehr funktioniert. Ich habe meine Kosten für Telefon, Handy, Internet, Kabelfernsehen und Rundfunkgebühren berechnet, denn auch ein arbeitsloser Journalist muss auf dem Laufenden bleiben. Das Auto lasse ich stehen: Benzin ist unbezahlbar. Danach bleibt mir ein Tagessatz von knapp 5,80 Euro. Schnell wird mir klar, dass vieles nicht mehr geht, das ich für selbstverständlich halte. Kein Buch, keine CD, kein Zeitungsabo, kein Besuch im Restaurant oder Schwimmbad. Auch kein Fitness-Studio, um etwas für den Rücken zu tun, und natürlich kein Urlaub. Alle Versicherungen müsste ich kündigen, die Bahncard und die Mitgliedschaft im Mieterverein. Ach ja, meine Wohnung müsste ich auch aufgeben, sie ist 30 Quadratmeter zu groß.
So wäre es, wenn es ernst wäre. Ich kenne das. Ich habe jahrelang von wenig gelebt. Ich war arbeitslos nach der Universität, habe mir dann wie viele aus meiner Generation mühsam eine Stelle erkämpft. Und nun lerne ich wieder, worauf ich viele Jahre glücklich verzichten konnte: rechnen, rechnen, rechnen.
Statt im Laden um die Ecke einzukaufen, radle ich wieder öfter zum Netto-Markt. Dort stehen die Waren in Pappschachteln. Ich sehe, wie eine ältere Frau eine Wurst aus dem Regal nimmt und sie wieder zurücklegt. Vor mir an der Kasse steht ein Mann, dessen Kleidung die Uniform der Armut ist. Alte Turnschuhe, speckige Jeans, ein verwaschenes T-Shirt. Er hat ein Sixpack Billigbier, Scheibenbrot und Margarine auf das Band gelegt. Es gibt hier Milch für 55 Cent, Salami für 99 Cent, Kaffee für 2,49 Euro und sehr günstige Bananen.
Zum Glück gibt es im Umkreis meiner Wohnung drei Biomärkte, die auch Sonderangebote führen. Ich kaufe ein Sonnenblumenbrot für 2,50, ein Kilo Müsli für drei Euro, Kirschen für fast umsonst. Am Sonnabend gehe ich kurz vor Schluss zum Wochenmarkt und frage nach Rabatten. Ich lebe von Nudeln, Brot, Kartoffeln und Gemüse, wie früher als Student. Es gelingt mir sogar, etwa einen Euro täglich zurückzulegen; damit kann ich am Kinotag ins Cinemaxx und zum Konzert der New Yorker "Klezmatics", das nur fünf Euro Eintritt kostet. Und viele Museen bieten am Donnerstagnachmittag freien Eintritt. Immerhin, das geht.
Das Sparen kommt mir anfangs wie ein Sport vor. Wenn jeder Cent zählt, dann sind eben fünf Euro wie sonst fünfzig und man muss gut auf sie Acht geben. Ich führe ein Tagebuch und notiere alle Ausgaben. Ich schreibe: Mit Disziplin ist das zu schaffen! Die alten Schuhe bringe ich noch einmal zum Schuster, statt sie wegzuwerfen. Die Haare kann ich mir von meiner Schwester schneiden lassen. Ich beglückwünsche mich, dass ich mit dem Rauchen aufgehört habe und dass ich nur selten ein Bier trinke.
Doch dann stelle ich fest, dass die Welt sich verengt. Meine Mobilität ist plötzlich eingeschränkt. Mit dem Rad kann ich mich zwar in der City gut bewegen, aber lange Strecken werden zum Problem. Um meine Mutter in Spandau zu besuchen, muss ich Bahn und Bus benutzen. Hin und zurück vier Euro. Ich frage mich, wie sich wohl echte Langzeitarbeitslose fühlen, wenn alle solchen Besuche zum Luxus werden. Ich frage mich, wie die Leute mit diesem Zustand umgehen.
Also verabrede ich mich mit Sozialhilfeempfängern und Langzeitarbeitslosen. Höre ihnen zu. Zum Beispiel der 58-jährigen Frau aus dem Wedding, die als Krankenschwester vor drei Jahren entlassen wurde und sich keine Illusionen über die Zukunft mehr macht: "Eine Arbeit? In meinem Alter?" Oder die Diplom-Chemikerin aus Moabit, allein stehend, 42 Jahre alt, die ihren gut bezahlten Job bei einer politischen Stiftung verlor, dann feststellte, dass sie zu viel Vermögen besaß, um Arbeitslosenhilfe zu bekommen. Sie verkaufte ihre Lebensversicherung und lebt seither davon. Sie könne noch ein Jahr durchhalten, sagt sie. "Ich schränke mich extrem ein. Gehe kaum noch aus, habe die Zeitungen gekündigt, den Gefrierschrank abgestellt. Ich würde überall arbeiten, aber ich finde trotz aller Bewerbungen und Fortbildungen - nichts."
Ich treffe eine allein stehende Mutter von sieben Kindern. Einen geschiedenen Kaufmann, der auf Kosten des Amtes ein zweites Studium zum Sozialarbeiter absolviert hat und trotzdem ohne Arbeit bleibt. Einen 44-jährigen Grafiker, der den Anschluss an den Beruf verloren hat und vor jedem Termin im Sozialamt weiche Knie bekommt. Eine junge allein erziehende Frau, die nichts Vernünftiges gelernt hat und deren Mutter schon vom Sozialamt lebte. Einen früheren Kollegen, der in zehn arbeitslosen Jahren müde und dick geworden ist: "Bisher ging es irgendwie, aber ich weiß nicht, wie ich ab Januar leben soll. Ich habe das Gefühl, dass man nach unten durchgereicht wird."
Die Armut rückt näher. Mein bester Freund ist gerade arbeitslos geworden, nach fast 20 Jahren in der gleichen Firma. Ein anderer hat seine Arbeit beim Goethe-Institut verloren. Wenn ich es recht überlege, gibt es kaum noch jemanden mit einem festen Job unter meinen Bekannten. Ich selber habe eine halbe Stelle, genug, um über die Runden zu kommen. Aber für immer abgesichert fühle ich mich schon lange nicht mehr. Es soll 8 000 arbeitslose Journalisten in Berlin geben. Nur 1300 von ihnen sind offiziell arbeitslos gemeldet. Die meisten schlagen sich wohl irgendwie durch. Zeigen sich so flexibel, wie es gewünscht wird.
Im Internet klicke ich mich durch die Angebote der Agentur für Arbeit. Es gibt ein paar Jobs für Journalisten. Man sucht Schreiber für PR-Agenturen: "Gewünschtes Alter: 26 bis 35." Dafür bin ich zu alt. Halt, eine andere Anzeige ist noch dabei, von der Antiquitätenzeitung in München. Das ist alles.
Probehalber stelle ich eine Bewerbungsmappe zusammen. Mit den fünf Euro, die das Arbeitsamt dafür zahlt, geht das. Doch pro Jahr werden nicht mehr als 260 Euro bewilligt - viel zu wenig für jene zwanzig Bewerbungen, die das Sozialamt einem Arbeitslosen pro Monat abfordert. Außerdem weiß jeder, dass die guten Jobs in unserer Branche nicht inseriert werden. Ein ehemaliger Praktikant, der gerade die Journalistenschule in München absolviert hat, berichtet, nur zwei aus seinem Jahrgang hätten eine Stelle gefunden. "Aber ich bin jung. Ich kann schon mal ein Jahr auf niedrigem Niveau leben."
Ja, ich kann auch drei Wochen auf niedrigem Niveau leben. Meinem Freund Günter muss ich sagen, ich könne ihn nicht treffen, weil ich es mir nicht leisten kann auszugehen, "wegen dieses Selbstversuchs". "Kein Problem", sagt er, "ich lade dich ein." Im Thai-Restaurant schwärmt Günter, gut bezahlter Psychologe, von dem neuen Cabrio, mit dem er liebäugelt. Er redet von Reisen, von Plänen, von Zukunft. Ich denke an meine Cousine. "Wenn ich verreisen will, muss ich jemanden anpumpen", hat sie gesagt. "Sonst geht das nicht."
Meine Cousine, Kulturmanagerin, fünf Sprachen fließend und arbeitslos seit 2001, lebt mit ihrer vierjährigen Tochter in einer kleinen Anderthalb-Zimmer-Wohnung im Hinterhof. Die Arbeitslosenhilfe reicht zum Leben, aber nicht, um der Kleinen den Tanzkurs zu bezahlen, den sie sich wünscht.
Während einige ihrer Freunde bereits Museen leiten, bewirbt sich meine Cousine mit ihren 46 Jahren noch immer um Praktika. Sie hat, nur um zu arbeiten, eine große Ausstellung organisiert. Für nichts. Sie hat sich Hilfe suchend an den Bundespräsidenten Johannes Rau gewendet. Er schrieb einfühlsam zurück. Doch er verwies sie auch wieder nur ans Arbeitsamt, wo die gleiche Beraterin ihr wie immer nichts anzubieten hatte.
Manchmal fürchtet meine Cousine, dass es gar nicht mehr besser wird. Dass sie ewig von "Stütze" leben muss. "Ich habe zunehmend das Gefühl, in dieser Gesellschaft nicht gebraucht zu werden." Dann wischt sie den Gedanken mit einer Handbewegung fort.
Die psychischen Folgen dauernder Abhängigkeit von staatlichen Almosen sind wohl am schwersten nachzuempfinden. Die kann ich nicht simulieren. Einerseits könnten viele nicht überleben ohne Unterstützung, andererseits mache die subventionierte Untätigkeit viele Menschen eher mürbe, als dass sie ihnen helfe, sagt Gerlin Friedrich, eine Soziologin und Familienhelferin, die ich in Schöneberg treffe. "Es tut keinem Menschen gut, etwas entgegenzunehmen, ohne etwas dafür zu tun. Das Selbstwertgefühl geht verloren und die Fähigkeit, mit wenig auszukommen, die unsere Großeltern noch besaßen."
Gerlin Friedrich hat viel mit "chronifizierten Sozialhilfeempfängern" zu tun, wie sie sagt, Menschen, die schon jahrelang von staatlicher Unterstützung existieren. Sie erzählt von einer allein erziehenden Frau mit zwei Kindern, die ein Hemd lieber wegwirft, wenn ein Knopf abreißt, statt ihn wieder anzunähen. Vom Familienvater, der vom Sozialamt einen neuen Tisch fordert, statt den alten zu reparieren. Von Menschen, bei denen der Fernseher den Tag strukturiert, weil sie sonst nichts zu tun haben. "Wohlstandsverarmung" nennt sie das: "Die Leute richten sich in der Bedürftigkeit ein. Das macht sie depressiv und lethargisch. Deshalb sagen viele Sozialarbeiter, die früher anders dachten: Hilfe muss sein, aber nichts mehr ohne Gegenleistung." Gerlin Friedrich sagt jedoch auch, sie habe Angst davor, was Hartz IV für das Miteinander in der Gesellschaft bedeute. "Ich fürchte, dass alles noch mehr erodiert."
Es sind ja längst nicht mehr nur die Alkoholiker auf den Bänken am Neuköllner Hermannplatz. Nach wenigen Tagen schon schärft das Experiment meinen Blick. Mir fallen viele arme Menschen auf den Straßen auf. So viele wie nie zuvor. Und die Verkäufer des Obdachlosenblatts Straßenfeger erscheinen mir jetzt wie Helden der Selbsthilfe. Ich besuche Beratungsstellen für Sozialhilfeempfänger und Langzeitarbeitslose, Kieztreffpunkte.
"Wer arbeitslos wird und Schulden hat, der fürchtet sich jetzt vor dem Nichts", sagt eine Schuldnerberaterin in Marzahn. Viele Menschen würden natürlich auch nach Schlupflöchern suchen, vermuten Berater in den Arbeitsämtern. Das Arbeitslosengeld als Grundsicherung mitnehmen und dann schwarz arbeiten. Um noch einen Anteil am "richtigen Leben" zu haben.
Nein, ich würde nicht gern schwarz arbeiten. Ich würde nicht kriminell werden wollen. Als ich mich wieder einmal einladen lassen muss, begreife ich, dass ich alles tun würde, um dieser beschämenden Lage zu entkommen.
Ja, man kann von 345 Euro leben. Nein, man kann es nicht. Nur was, wenn es gar nicht mehr anders geht? Wenn es weder Arbeit noch Chancen gibt? Wenn man nicht wie ich flexibel, kinderlos und halbwegs gesund ist? Was dann? Meine Cousine sagt, manchmal spüre sie einen Stich von Panik.
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