Osteuropa
»Der Druck auf den Westen steigt«
Steuerkonkurrenz ist richtig, das alte europäische Sozialmodell überholt: Ein ZEIT-Gespräch mit dem slowakischen Finanzminister Ivan Miklos
DIE ZEIT: Herr Miklos, Bundeskanzler Gerhard Schröder hat die Steuerpolitik der Slowakei »unfaires Steuerdumping« genannt. Ist es richtig, sich im vereinten Europa über niedrige Abgabensätze Konkurrenz zu machen?
Ivan Miklos: Ja, das ist richtig. Freier und fairer Wettbewerb tut überall gut. Europa braucht mehr Markt, mehr Flexibilität und verbesserte Bedingungen für die Unternehmen. Steuerkonkurrenz kann eine wichtige Rolle spielen, diese Reformen anzuschieben.
ZEIT: Die kleine Slowakei als Motor und Modell für Reformen auch in Westeuropa?
Miklos: Ach was, wir geben keine Ratschläge. Aber die Globalisierung ist Realität. Unsere Reformen - nicht nur in der Steuerpolitik, auch in der Sozialpolitik - dienen dazu, die Slowakei in einer globalisierten Welt wettbewerbsfähiger zu machen. Sie sind Voraussetzung für höheres und dauerhaftes Wachstum. Ob sich andere Länder Teile unserer Politik zu Eigen machen, ist ihre Sache.
ZEIT: Andere Länder, Deutschland und Frankreich vorneweg, hätten es gerne, wenn Sie Ihre Politik änderten.
Miklos: Schon möglich. Nur sind wir dagegen, dass uns jemand vorschreibt, was wir tun dürfen und was nicht. Uns geht es vor allem um die Slowakei und die Slowaken. Unsere Strategie richtet sich gegen niemanden. Aber ohne strukturelle Reformen wird Europa global nicht wettbewerbsfähig sein. Und wenn Steuerkonkurrenz in Westeuropa zu mehr Reformen führt, ist das gut und notwendig.
ZEIT: Westeuropa ist stolz auf sein Sozialmodell, in dem Sozialpartnerschaft und ein relativ gut ausgebauter Sozialstaat die wichtigsten Säulen sind. Ist dieses Modell verbraucht?
Miklos: Es wird Änderungen geben müssen. Das kontinentale Sozialmodell behindert nicht nur Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit. Es ist auch ungerecht - und zwar dann, wenn die Wohltaten des Staates missbraucht werden oder die Abhängigkeit sozial schwacher Personen von Staatshilfe erhöhen. Mir geht es nicht um das französische oder deutsche System, ich kenne beide nicht. Ich weiß aber, dass unser System vor den Reformen dem westeuropäischen Modell ähnelte. Und es war weder gerecht noch fair.
ZEIT: Befürchten Sie nicht, dass es zu einem Wettlauf nach unten kommt - mit immer geringerem sozialen Schutz und immer niedrigeren Steuersätzen, was dann auch zu entsprechenden Problemen in den Staatshaushalten führen kann?
Miklos: Nein, absolut nicht. Man darf nicht nur auf die Steuersätze schauen. Deutschland hat auf dem Papier so ziemlich die höchsten Unternehmenssteuern Europas, aber wegen einer Fülle von Sonderregelungen ist die tatsächliche Belastung am Ende mit die geringste in der Europäischen Union. Mit der Einführung der Einheitssteuer von 19 Prozent haben wir dagegen die meisten Ausnahmetatbestände abgeschafft. Außerdem wurden die indirekten Steuern erhöht. Folge ist, dass das Gesamtsteueraufkommen 2004 nicht geringer sein wird als vor der Reform im vergangenen Jahr.
ZEIT: Und was wird aus dem sozialen Schutz?
Miklos: Die Sache ist doch klar: Wenn viel Geld für Menschen ausgegeben wird, die faul oder passiv sind und gar nicht arbeiten wollen, dann bleibt weniger für die übrig, denen wirklich geholfen werden muss. Die Diskussion darüber, was sozial gerecht ist, wird es immer geben. Auf der Linken meint man, Umverteilung und Progressivität bei den Steuern seien der richtige Weg zu mehr sozialer Gerechtigkeit. Ich dagegen denke, eine Einheitssteuer, die alle Einkommen relativ gleich belastet, ist fairer. Ich glaube auch, dass soziale Gerechtigkeit als Chancengerechtigkeit definiert werden muss. Und ich weiß, dass alle empirischen Analysen zu demselben Schluss kommen: Jene Volkswirtschaften, die marktliberaler organisiert sind, in denen mehr wirtschaftliche Freiheit herrscht, wachsen auch schneller - was auf Dauer dann wiederum den Armen hilft.
ZEIT: Ihre Kritiker in der Slowakei sind ganz anderer Ansicht. Sie sagen, niedrige Einkommensteuern begünstigten die Reichen, während die Armen und die Mitte durch Sozialkürzungen und durch die höhere Mehrwertsteuer über Gebühr belastet würden. Ein Durchschnittsslowake gibt ein Drittel seines Einkommens für Güter des täglichen Bedarfs aus, die allesamt teurer wurden.
Miklos: Erstens kürzen wir staatliche Hilfe nur für diejenigen, die nicht arbeiten wollen. Gleichzeitig richten wir staatliche Beschäftigungsprogramme ein; wer da mitmacht, bekommt jetzt sogar mehr Geld. Zweitens haben wir die Freigrenze in der Einkommensteuer mehr als verdoppelt. Bis zu einem Level von 50 Prozent des Durchschnittseinkommens zahlt kein Slowake Steuern. Detaillierte Studien haben drittens ergeben, dass die große Mehrheit der slowakischen Familien von den Reformen nicht negativ betroffen ist.
ZEIT: Die Slowakei werde ein Land mit größerer Ungleichheit, sagen die Kritiker.
Miklos: Da haben die Kritiker Recht. Die Ungleichheit wird wachsen. Aber auch in Zukunft wird sie nicht höher sein, als sie es in den meisten westeuropäischen Ländern schon heute ist. Außerdem: Das Wichtigste ist doch, dass wir ein höheres und anhaltendes Wirtschaftswachstum bekommen.
ZEIT: Der jüngste Entwicklungsindex der Vereinten Nationen zeigt, dass die Slowakei um drei Plätze abgerutscht ist. Andere osteuropäische Länder haben sich dagegen verbessert.
Miklos: Ich finde einen anderen Index für die langfristige Perspektive wesentlich wichtiger: Auf der Rangliste der Länder mit größerer oder kleinerer wirtschaftlicher Freiheit haben wir zuletzt den größten Sprung nach vorn gemacht - von Platz 67 auf Platz 36. Freiheit führt zu Wachstum, und mit Wachstum lassen sich all die Dinge bezahlen, die dann wiederum in den UN-Entwicklungsindex einfließen: Bildung, Gesundheit, der Schutz der Umwelt. Erst mal brauchen wir Wachstum.
ZEIT: Das aus dem Ausland kommen muss.
Miklos: Richtig. Investitionen aus dem Ausland sind für uns extrem wichtig. Praktisch allen früheren Staaten des Ostblocks mangelt es ja an Unternehmern und eigenem Kapital. Dafür bieten wir ungenutzte Kapazitäten an, Arbeitskräfte zum Beispiel. Die hohe Arbeitslosigkeit bei uns ist einerseits ein Problem, andererseits eine Chance. Wir haben da einen Wettbewerbsvorteil. Das ist eine Situation, in der alle gewinnen - die Unternehmen aus dem Ausland wie auch unsere Beschäftigten.
ZEIT: Westeuropäische Arbeiter, die durch Betriebsverlagerungen ihren Job verlieren, gewinnen nicht.
Miklos: Alle ernst zu nehmenden Analysen zeigen doch, dass Westeuropa in den neunziger Jahren von der Öffnung des Ostens mehr profitiert hat als der Osten selbst. Natürlich bedeutet die EU-Osterweiterung mehr Wettbewerb. Natürlich werden damit einige westeuropäische Unternehmen auf der Strecke bleiben. Natürlich steigt aus dem Osten der Druck auf den Westen, einige Dinge zu ändern. Es war ja schon erstaunlich, wie jüngst in Deutschland Arbeitszeiten ohne Lohnausgleich verlängert wurden. Für die betroffenen Arbeitnehmer ist das natürlich nicht schön. Aber für die Wirtschaft insgesamt ist es eine sehr positive Entwicklung. So ist die Welt nun einmal. Besser Veränderungen heute als morgen.
ZEIT: Wenn man sich in den neuen EU-Ländern umschaut, fällt auf, dass marktradikale Lösungen nur leise infrage gestellt werden. Wie kommt das?
Miklos: Zum einen haben wir natürlich alle tragische Erfahrungen mit dem Gegenmodell eines marktwirtschaftlichen Systems gemacht. Wichtiger noch ist aber, dass es für Staaten wie die Slowakei keine Alternative gibt. Reiche Länder wie Frankreich oder Deutschland können sich ein kostenträchtiges Sozialsystem leisten, weil sie reich sind. Sie können sich auch wirtschaftliche Fehlentscheidungen erlauben, sie bleiben weiterhin reich. Wir sind arm. Auch unsere politische Linke gibt das zu. Auch sie hat keine Alternative zum Markt.
ZEIT: Wo wird die Slowakei in zehn Jahren stehen?
Miklos: Wenn wir auf dem eingeschlagenen Weg weitermachen, werden wir, gemessen am Wachstum, eines der dynamischsten Länder Europas sein. Und eines der erfolgreichsten im Angleichungsprozess an die alte EU.
ZEIT: Und Sie selbst? 2006 sind die nächsten Wahlen. Die Umfragen sind nicht gut.
Miklos: Wissen Sie, dies ist die dritte Regierung, an der ich beteiligt bin. Mit der ersten Anfang der neunziger Jahre scheiterten wir mit Pauken und Trompeten, unsere Partei kam mit 3,5 Prozent nicht einmal mehr ins Parlament. Die zweite hat nach vier Jahren im Amt 2002 die Wahlen gewonnen. Jetzt zeigen die Umfragen, dass die Slowaken so unzufrieden sind wie kaum eine andere Nation der EU. Dennoch haben wir bei der Europawahl - bei zugegebenermaßen geringer Wahlbeteiligung - die meisten Stimmen bekommen.
ZEIT: Gerhard Schröder wird das gerne hören.
Miklos: Da enthalte ich mich aller Kommentare. Aber ich habe das Gefühl, dass die Slowaken schon verstehen, dass es einen anderen, einen einfacheren Weg nicht gibt. Das heißt: Man kann unpopuläre Dinge tun und wird vom Volk trotzdem nicht in die Wüste geschickt.
Mit Ivan Miklos sprach Christian Tenbrock
(c) DIE ZEIT 26.08.2004 Nr.36 |