„Rot-Grün ist in vielen Bereichen nicht regierungsfähig“ Meinhard Miegel, Geschäftsführer des Instituts für Wirtschaft und Gesellschaft, zur Politik der Regierung
DIE WELT: Welche drei Sofortmaßnahmen wünschen Sie sich von dieser Regierung?
Meinhard Miegel: Erstens, dass die Bundesregierung sofort reinen Tisch macht und endlich Klartext redet. Dadurch würden in Deutschland enorme Kräfte freigesetzt. Viele Menschen warten nur darauf, mit anpacken zu können. Doch diese nicht enden wollenden Halbwahrheiten und Dementis haben sie gelähmt. Es ist ja nicht so, dass wir ein armes Volk sind. In diesem Jahr wird das höchste Bruttoinlandsprodukt in der Geschichte der Republik erwirtschaftet. Worum es geht ist eine Neuordnung des Verhältnisses von Staat, Gesellschaft und Individuum. Dabei muss die Regierung beim Staat anfangen. Dieser muss Zeichen setzen und nicht bei jeder Schwierigkeit sofort zum Bürger laufen, um ihm mehr Geld aus der Tasche zu holen. Und drittens muss unverzüglich die Reform aller sozialer Sicherungssysteme glaubwürdig in Angriff genommen werden. Bisher ist es mit dem Reformwillen nicht weit her. Darüber können Kommissionen nicht hinweg täuschen.
DIE WELT: Halten Sie diese Regierung für regierungsfähig?
Miegel: Das ist hart, aber in wichtigen Bereichen ist sie ganz offensichtlich nicht regierungsfähig. Die sozialen Sicherungssysteme sind auch nach vier Jahren noch nicht auf die veränderten Bedingungen umgestellt. Die Riester-Reform war im Bereich der gesetzlichen Rentenversicherung ein Flop, die Steuerreform ist voller handwerklicher Fehler. Und dann ist da das weite Feld des Arbeitsmarktes. Er ist genauso verkrustet wie vor vier Jahren. Was aber das Schlimmste ist: Es gibt auch keine Anzeichen dafür, dass sich hieran in Zukunft etwas ändern wird. Die Regierung dümpelt weiter vor sich hin.
DIE WELT: Schließen Sie sich dem Vorwurf des „Wahlbetrugs“ und der „Lüge“ an?
Miegel: Diese Begriffe verwende ich nicht. Aber so viel ist sicher: Die Regierung wusste erheblich mehr, als sie im Wahlkampf verlauten ließ. Es war absehbar, dass sie die Neuverschuldungshürde von 3 Prozent reißen und das Wirtschaftswachstum auch im vierten Quartal nicht anspringen würde. Mit ihren Einlassungen vor dem Wahltag hat sie die Wahrheit unerträglich gebogen. Nicht zuletzt deshalb befindet sich die Republik alles in allem in keinem guten Zustand. Allerdings kann das nicht allein dieser Regierung angelastet werden. Vielmehr hat sich das Leiden über eine lange Zeit entwickelt. Es ist chronisch geworden.
DIE WELT: Oskar Lafontaine zieht Vergleiche zwischen Schröders Politik und den Brünningschen Notverordnungen der Weimarer Republik, der Historiker Arnulf Baring ruft den Bürger auf die Barrikaden – befinden wir uns in einer instabilen politischen Situation?
Miegel: Ich halte die Lafontainschen Vergleiche für ziemlich abwegig, aber es gibt Anzeichen zunehmender politischer Instabilität. Der Grund: die großen Probleme im Bereich von Wirtschaft und Sozialem sind seit Jahrzehnten ungelöst. Niemand kann mehr erkennen, worauf die Politik eigentlich abzielt. Das irritiert vor allem die jüngere Generation. Sie hat inzwischen begriffen, dass für sie die sozialen Systeme eine Falle sind und ihre wirtschaftliche Leistungsfähigkeit auf das Äußerste beanspruchen. Jetzt rächt sich, dass die heute 30- bis 60-Jährigen zwar nicht individuell, aber doch kollektiv, nur unzulänglich mit den Nachwachsenden geteilt haben. Es kamen Wenige nach und die Wenigen wurden noch nicht einmal optimal qualifiziert. Das konnte auf Dauer nicht gut gehen. Der Protest junger Bundestagsabgeordneter gegen den Beschluss, die Rentenversicherungsbeiträge vom kommenden Jahr an weiter kräftig zu erhöhen, ist ein unübersehbares Signal. Immer mehr jüngere Menschen erklären, dass sie sich von der Politik nicht mehr bieten lassen wollen, was ihnen seit Jahren vorgesetzt wird. Ich habe dafür Verständnis.
DIE WELT: Müssen wir über einen Umbau unserer Demokratie nachdenken?
Miegel: In der Theorie sind die Strukturen unserer politischen Ordnung in Ordnung. Nur hat sich die Verfassungspraxis in Teilbereichen weit vom Verfassungstext entfernt. Das hat dieses Land in arge Bedrängnis gebracht. Zu nennen ist die chaotische Vermengung von Bundes- und Länderzuständigkeiten. Niemand schaut da mehr durch. Oder der Dauerbrenner Länderneugliederung. Hier gab es einmal einen klaren Verfassungsauftrag, der immer weiter verwässert worden ist. Die Zeit ist überreif, aus den 16 Ländern, von denen die Hälfte nicht überlebensfähig ist, 7 oder 8 zu machen.
DIE WELT: Wie schnell erwarten sie eine weitere krisenhafte Zuspitzung bei den sozialen Sicherungssystemen?
Miegel: Das wird jetzt relativ schnell gehen. Im laufenden Jahrzehnt sind die Probleme im Großen und Ganzen noch handhabbar. Aber dann geht es Holterdiepolter. Die Zeit reicht nicht mehr, die notwendigen Veränderungen gleitend evolutionär vorzunehmen. Die Gefahr revolutionärer Veränderungen wird deshalb immer größer. Das heißt nicht, dass es zu blutigen Konflikten oder Barrikadenkämpfen kommen wird. Aber ich sehe abrupte Brüche in unserer Sozialordnung voraus.
DIE WELT: Die Regierung wirkt gelähmt durch den starken Einfluss der Gewerkschaften. Blockieren die Gewerkschaften unsere Demokratie?
Miegel: Nicht die Demokratie, aber eine gesunde wirtschaftliche und soziale Entwicklung. Die Gewerkschaften sind extrem rückwärts gewandt. Sie hatten ihre große Zeit in den fünfziger, sechziger und frühen siebziger Jahren. Mental sind sie dieser Epoche noch immer verhaftet. Im 21. Jahrhundert sind sie jedenfalls nicht angekommen. Das zeigte sich bei den Hartz-Vorschlägen genauso wie bei der Riesterschen Rentenreform. Beide waren zu Beginn ungleich besser als am Ende. Dazwischen lagen heftige Interventionen der Gewerkschaften. Sie sind heute das, was man bei einer politischen Bewegung reaktionär nennt.
DIE WELT: Wer ist denn den Gewerkschaften in diesem Land überhaupt noch gewachsen?
Miegel: Die Gewerkschaften sind für viele Politiker noch immer eine Art Angstgegner. In Wirklichkeit stehen sie längst auf tönernen Füßen. Sie vertreten nur noch eine kleine Minderheit. Würde die Politik ihrem Drängen entschlossen entgegentreten, wäre ihre Kraft schnell gebrochen. Die Arbeitgeber zeigen wie das geht. Indem sie keine Tarifverträge mehr abschließen entziehen sie sich ihnen. Allenthalben bilden sich neue Arbeitgeberorganisationen. Die Gewerkschaften werden bald spüren, wie sie leer laufen.
Das Gespräch führte Ulrich Clauss
Artikel erschienen am 23. Nov 2002
Grüße MaMoe ... |