Osteuropa, Indien und China - Neue Märkte für die Logistik Von Jürgen Hess*)
Osteuropa, Indien und China gelten als die Wachstumsmärkte, nicht nur in der Wirtschaftspresse. Welche Potenziale stecken wirklich in diesen Ländern? Jeder dieser Märkte hat aber seine ganz speziellen Eigenheiten und bedarf unterschiedlicher Strategien zur Erschließung. Nur mit einer genauen Planung und Kenntnissen der landesspezifischen Gegebenheiten sind auch die erhofften Einsparungen in der Produktion sowie die Beschaffung und die Erschließung zu verwirklichen. Für die Logistik-Branche geben diese Märkte wichtige Wachstumsimpulse und erzielen in einigen Bereichen die größten Steigerungsraten.
Indien Das Land, in dem ein Kopfschütteln ein Ja bedeutet, ist der neueste Star am Himmel der Wachstumsmärkte. Indien hat mit seinen jährlichen Zuwachsraten von 6 bis 10 Prozent und ca. 1,2 Mrd. Konsumenten ein sehr hohes Potenzial. Das Land ist - neben den seit langem bekannten Dienstleistungen rund um die IT-Branche - sehr lukrativ für Produktionsstandorte, als Sourcing-Markt sowie Absatzmarkt, aber auch als Distributionsstandort für den vorderasiatischen Raum und den mittleren Osten. Das Land bietet den Investoren einerseits sehr geringe Lohnkosten sowie ein gutes Ausbildungsniveau und andererseits im Vergleich zu China geringere administrative Auflagen und einfache Kommunikation: Business-Sprache ist trotz der parallel existierenden drei Hauptsprachen und ca. 1.500 indischen Dialekten Englisch. Besonders auffällig ist der hohe Arbeitswille in Indien. Dies zeigt sich in der fast uneingeschränkten Flexibilität bei Arbeitsstandort und Arbeitszeiten sowie der begierigen Wahrnehmung von Weiterbildungsangeboten. Als Absatzmarkt gewinnt Indien immer mehr an Dynamik. Im B2B-Bereich ist er bereits ein interessanter Markt und hat sehr gute Absatzprognosen. Der B2C-Bereich ist noch bedingt durch das geringe Einkommen im Hintertreffen, jedoch entwickelt er sich sehr rasant. Positiv wirkt sich hier der steigende Lebensstandard aus. Sourcing in Indien ist schon lange keine Ausnahme mehr, sondern ein Trend. Die wichtigsten Einkaufsgüter aus westlicher Sicht sind Textilien, Chemieprodukte, Elektro- und KFZ-Teile. Exemplarisch für das rasante Wachstum als Beschaffungsmarkt sind die Prognosen für indische Autoteileexporte, die in diesem Jahr um 30 bis 35 Prozent ansteigen sollen.
Infrastruktur Die Infrastruktur ist von den drei großen Wachstumsmärkten die schlechteste. Es gibt zwar ein umfangreiches Netz, aber es ist in einem miserablen Zustand. Dieses Manko hat auch die Regierung erkannt und investiert in die Modernisierung und den Ausbau. Eines der großen Schlüsselprojekte, das mit Hilfe der Weltbank realisiert wird, ist der Bau der Ost-West- und der Nord-Süd-Achse. Einen Vorteil bietet das Land allein durch seine Geografie: Ein See-Hafen ist meist nicht weit, was die Distribution und Disposition (z.B. Produktionsstandorte) erheblich vereinfacht.
Novum Steuersystem Kaum zu glauben: Nicht nur, dass das Steuersystem in jedem Bundesstaat anders ist, nein, sogar beim Warenverkehr über die Grenzen der einzelnen Bundesstaaten (vergleichbar der deutschen Bundesländer) werden Steuern fällig. Aber auch hier gibt es gewaltige Unterschiede. Die Spanne für Zölle reicht von keinen bis zu je nach Ware unterschiedlichen Sätzen. Dies kann aber in den meisten Bundesstaaten umgangen werden, in dem der Warenfluss als unternehmensinterner deklariert wird. Das heißt, Warenverkehr zwischen den einzelnen Standorten des Unternehmens wird nicht besteuert. Dadurch gibt es unverhältnismäßig viele Logistikstandorte. Die Abschaffung des veralteten Steuersystems steht bereits seit Jahren auf der Agenda, und jedes Jahr im November - wenn die Entscheidung darüber getroffen werden soll - hoffen die Unternehmer. So auch in diesem Jahr.
Perspektiven für die Logistik-Branche Die Automatisierung der Läger, die zumeist Blockläger sind, ist sehr gering. Aber auch hier entstehen in letzter Zeit immer mehr moderne Lager, z.T. mit höherem Automatisierungsgrad. Trotz des schier unerschöpflichen Reservoirs an Arbeitskräften steigen die Lohnkosten und werden den Automatisierungstrend beschleunigen. Für die Technik-Hersteller bestehen mit dem rasanten Wirtschaftswachstum und dem Trend zur Automatisierung sehr gute Perspektiven. Für Logistik-Dienstleister ist Indien ein sehr interessanter Markt. Die Großen der Branche sind zwar bereits vor Ort, aber der Markt entwickelt sich sehr rasant und bietet noch viele Chancen, um sich zu etablieren. Aber auch dieser Bereich ist nicht ganz frei von Überraschungen. So wird z.B. bei Transporten mit je nach Bundesstaat unterschiedlichen Überladungsraten kalkuliert. D.h. für einen LKW mit zulässigen neun Tonnen wird mit max. Fracht von zwölf Tonnen kalkuliert und auch in der Realität so beladen.
China China sagen einige Analysten eine ähnliche Entwicklung wie in Japan in den 60er Jahren voraus. Bereits heute ist es die sechstgrößte Volkswirtschaft mit 1,3 Mrd. Einwohnern und die drittgrößte Handelsnation. Auch im letzten Jahr konnte ein erstaunliches Wachstum von 9,5 Prozent erreicht werden. Aber der chinesische Drache ist kein Überflieger, diese Erfahrung mussten einige Unternehmen leidvoll erfahren. Das Land als Absatzmarkt birgt immer noch riesige Potenziale. Die Zeiten, als quasi jede Ware ein Erfolg wurde, sind jedoch vorbei. Unternehmen, die mit einer Expansion in diesen Markt liebäugeln, sollten sich vorher genau informieren, welche Marktsituation für ihre Produkte besteht und anhand der Analyse den Markteintritt/-ausbau planen. In einigen Fällen ist es sinnvoller, eine Kooperation oder ein Joint Venture mit bereits etablierten lokalen Partnern anzustreben. Den Markteintritt erschweren kulturelle Unterschiede, die Sprache und teilweise undurchsichtige Handelsbestimmungen. Exemplarisch ist hier der Transport- und Logistik-Dienstleistungsmarkt zu nennen. Um direkt Dienstleistungen anbieten und rechtliche Dokumente erstellen zu dürfen, muss der Anbieter im Besitz einer A-Lizenz sein. Diese wird vom chinesischen Außenhandelsministerium erteilt. Die Lizenz gilt jedoch nicht für das ganze Land, sondern nur für eine Provinz. Und erst nach einem Jahr kann für eine andere Provinz eine weitere beantragt werden. Die Attraktivität des chinesischen Marktes hat trotz aller Hemmnisse und teilweiser Marktsättigung nichts an seinem Glanz verloren.
Logistik in China Die Logistiksysteme in China gelten im Vergleich zu Europa und den USA gemeinhin als ineffizient. Der Anteil der Logistikkosten an den Gesamtkosten ist höher, die infrastrukturellen Voraussetzungen deutlich schlechter. Nach einer Studie der EU unter Federführung der Fraunhofer IFF liegt der Anteil der Logistikkosten am BIP bei etwa 17 Prozent (Deutschland sieben Prozent). Diese Marktanalyse ermittelte einen Transport- und Lagerkostenanteil von 30 bis 40 Prozent der gesamten Kosten bei Produktionsgütern, bis zu 60 Prozent bei Lebensmitteln sowie 70 bis 80 Prozent bei einigen Chemikalien. Die Gründe für die vergleichsweise schlechte Performance sehen die Experten in den Defiziten bei: Materialflusssteuerung, IT-Systemen, Lagerinfrastruktur und Bestandsmanagement. Mit dem zunehmenden Wettbewerbsdruck werden die Unternehmen versuchen, diese Optimierungspotenziale so schnell wie möglich zu realisieren. Der gesamte Logistik-Markt wird je nach Quelle auf 200 bis 250 Mrd. Dollar beziffert, der Anteil des Outsourcing jedoch nur auf 1,5 bis vier Prozent. Allerdings wird dem Outsourcing ein jährliches Wachstumspotential von 15 bis 25 Prozent zugesprochen, und zwar in einem stark fragmentierten Markt, in dem der größte Player nicht einmal zwei Prozent des Marktes auf sich vereinigen kann. Mit den sehr guten Prognosen und dem erheblichen Nachholbedarf, stehen in China alle Zeichen auf ein weiterhin hohes Wachstum für LogistikDienstleister und -Technikanbieter.
Osteuropa Dieser Wachstumsmarkt vor der Haustür birgt trotz geringerer Wachstumsraten immer noch viele Potenziale.
Deutschlands Position im Handel mit den Beitrittsländern Aufgrund der Lage und der Geschichte hat Deutschland bereits eine führende Position im Handel mit den Beitrittsländern erreicht. Rund 40 Prozent des EU-Handels dieser Länder wird mit Deutschland abgewickelt. Umgekehrt beträgt der Exportanteil in diese Länder inzwischen mehr als zehn Prozent. Im produzierenden Gewerbe dürfte Schätzungen zufolge jedes dritte Unternehmen Teile seiner Produktion in diese Länder verlagert oder erweitert haben.
Gründe für eine Produktionsverlagerung Alle befragten Unternehmen nennen Kostengründe, wie Personalnebenkosten, Tarifentgelte sowie Steuern und Gebühren als Hauptgründe für eine Produktionsverlagerung. Allein auf die Tarifentgelte bezogen betragen die Einsparungen im Schnitt aller Beitrittsländer 80 Prozent. Aber auch bei den Steuern sind die Einsparungen erheblich. Beträgt die durchschnittliche Steuerbelastung in Deutschland 37,2 Prozent, so sind es in Polen 24,7 Prozent, in Ungarn 19,4 Prozent und in Litauen sogar nur 13,1 Prozent. Der zweithäufigste Grund für die Entscheidung der Produktionsverlagerung ist die mangelnde zeitliche, räumliche oder inhaltliche Flexibilität der Mitarbeiter in der Produktion. Bürokratische Hürden, Verlagerungen auf Kunden- und Lieferantenseite sind in der Regel nachgelagerte Entscheidungskriterien. Bei der Wahl des Standortes wurde fast immer eine bereits auf diese Branche spezialisierte Region gewählt, wenn nicht sowieso schon ein bereits bestehendes Unternehmen übernommen werden konnte. Nicht nur niedrigere Lohnkosten, sondern auch zahlreiche qualifizierte Arbeitskräfte, hohe Fachkompetenz und Motivation fanden deutsche Firmen vor, die in den Beitrittsländern Fuß gefasst haben. Voraussetzung für einen erfolgreichen Aufbau neuer Standorte ist der Einsatz von Führungspersonen aus dem entsprechenden Land, mindestens ab der zweiten Führungsebene. Bei der Produktionsverlagerung hat es sich aus logistischer Sicht als vorteilhaft herausgestellt, komplette Produktgruppen und nicht nur Komponenten zu verlagern. Damit reduzieren sich zum einen die Transportkosten und der Steuerungsaufwand zwischen Vorproduktion und Montage, zum anderen können diese Produkte dann meist direkt in Osteuropa abgesetzt werden. Ebenso sollte die Entfernung zu den Absatzmärkten oder Produktionsstandorten der Zulieferer minimal sein. Interessant ist auch der bemerkenswert hohe Stand der Technik in manchen Ländern in Bezug auf die Telekommunikation, aber auch bezogen auf den Nutzungsgrad neuer Technologien.
Gute Chancen für die Erweiterung der Absatzgebiete Viele deutsche Unternehmen sehen in der derzeitigen Wirtschaftssituation den Export als einzige Wachstumsmöglichkeit. Kooperationen mit Händlern, Neugründungen, Übernahmen bestehender Firmen oder Joint Ventures sind die i.d.R. gewählten Alternativen zur Expansion. Die Wahl hängt von der jeweiligen Unternehmensstrategie ab und davon, ob eine Übernahme des Kundenstammes oder einer Produktionseinheit mit entsprechend qualifizierten Mitarbeitern gewünscht ist. Höchst unterschiedliche rechtliche Hürden in den einzelnen Ländern müssen ebenfalls ins Kalkül gezogen werden. An dieser Stelle wird die Niederlassungsfreiheit im Rahmen der EU-Erweiterung eine deutliche Vereinfachung nach sich ziehen.
Das Engagement ist nicht ohne Risiko Leider stehen den positiven Erfahrungen auch Risiken und negative Erlebnisse gegenüber. Meist liegt der Qualitätsstandard in diesen Ländern nicht auf unserem Niveau. Dies muss beachtet werden, wenn die dort produzierten Waren ein entsprechendes Qualitätsniveau aufweisen müssen. Hier kann durch intensive Schulung der Mitarbeiter und mit Einsatz von Qualitätssicherungssystemen der gewünschte Erfolg sichergestellt werden. Einige Länder, wie z.B. Polen, weisen ein hohes Preisniveau bei niedrigem Lohnniveau auf. Dies könnte starke Lohnsteigerungen, insbesondere durch eine mittelfristige Einführung des Euros, zur Folge haben. Bereits heute ist das Lohngefälle bei Spezialisten und Top-Managern deutlich geringer als im Durchschnitt über alle Gehaltsgruppen. Interessant ist, dass die Mobilität der Mitarbeiter in Osteuropa ähnlich gering ist wie in Westeuropa. Auch hier bedarf es teilweise hoher Anstrengungen, um die Mitarbeiter zu einem Umzug an einen neuen Standort zu bewegen. Die noch nicht optimale Verkehrsinfrastruktur führt zu längeren Transportlaufzeiten im Vergleich zu Westeuropa. National muss mit einer Laufzeit bei Stückgut und Paketen von 24 bis 48 Stunden gerechnet werden. Grenzüberschreitend weisen die Laufzeiten im Stückgutbereich mit zwei bis neun Tagen und im Paketdienstbereich mit drei bis sechs Tagen starke Schwankungen auf. Die schnellsten Verbindungen bestehen zwischen Deutschland und Polen, Tschechien und Ungarn, sowie zwischen Tschechien und der Slowakei. Logistik-Immobilien in den logistischen Knotenpunkten erreichen fast das westeuropäische Preisniveau oder liegen je nach Ausstattung teilweise sogar darüber. In den Kernländern Polen, Ungarn und Tschechien muss mit Mietkosten von fünf Euro pro qm und Monat gerechnet werden.
Es überwiegen aber die Chancen Insbesondere durch den Wegfall der komplizierten Zollformalitäten ergibt sich eine deutliche Vereinfachung im Warentransfer mit diesen Ländern. Die große Flexibilität in der Leistungsentlohnung und flexible Arbeitszeiten verbunden mit dem geringeren Lohnniveau sind die Pluspunkte. Es bietet sich an, nicht nur personalintensive Produktionsprozesse, sondern im Logistik-Bereich auch kundenindividuelle Value Added Services oder Retouren-Aufbereitung in Osteuropa durchführen zu lassen. Die Erfahrung aus vielen Miebach-Logistik-Projekten ist, dass die Mitarbeiter im Vergleich zu Deutschland Veränderungen gegenüber deutlich offener gegenüberstehen. Insofern können bei konsequenter Verfolgung die Qualitätsstandards recht schnell an das gewünschte Maß herangebracht werden. Falls im Zuge der Verlagerung keine neuen Technologien zur Qualitätssicherung eingesetzt werden, kann notfalls durch manuelle Sicherungssysteme das geforderte Niveau erreicht werden.
Perspektiven für die Logistik-Branche Mit der weiteren Entwicklung als Logistik-Standort, dem nach wie vor hohen Wirtschaftswachstum und der voranschreitenden Automatisierung kann die Logistik-Technik-Branche auf einen Markt mit guten Wachstumsprognosen bauen. Den Logistik-Dienstleistern eröffnen sich weiterhin gute Expansionsmöglichkeiten, denn Osteuropa wird immer mehr zum Drehkreuz zwischen Russland und Westeuropa. Hinzu kommt die steigende Outsourcing-Bereitschaft.
*) Jürgen Hess ist Sprecher der Geschäftsführung der Miebach Logistik GmbH Deutschland sowie der Geschäftsführer der Miebach Logistik Holding GmbH in Frankfurt am Main. (Mehr Artikel von Logistik für Unternehmen)
Datum: 21.11.2005 Quelle: Logistik für Unternehmen Bild: Miebach Logistik Redakteur: jh/LfU Quelle: www.mylogistics.net |