Preis & Indikator im Streit
Die Vielzahl der technischen Indikatoren ist schier unüberschaubar. Sie haben alle etwas gemeinsam: So heterogen sich Indikatoren bezüglich ihrer Ausgangsidee und Formulierung auch zeigen mögen – ein aus den Kursen und/oder Umsätzen abgeleiteter, mit mehr oder minder hohem mathematisch-statistischen Aufwand berechneter Indikator soll eine Aussage zur weiteren Kursentwicklung erlauben, die sich aus der reinen Betrachtung des Kursverlaufs allein (Charting) nicht ableiten lässt. Deswegen sollten Anleger ihr Hauptaugenmerk auch gar nicht auf die Situationen lenken, in denen Kursverlauf und Indikator (zum Bespiel Momentum, RSI) in die gleiche Richtung streben. Beachtenswerter sind vielmehr Situationen, in denen beide auseinander streben. Diese Ausgangslagen bezeichnet der Technische Analyst als Divergenzen.
Blickt man in ein Lexikon, so wird "divergent verlaufend" dem allgemeinen Sprachgebrauch folgend mit "auseinander strebend, in entgegengesetzter Richtung verlaufend" beschrieben. Manches Nachschlagewerk spricht gar von einer "Meinungsverschiedenheit". Und wer soll in dieser Meinungsverschiedenheit kategorisch Recht behalten? Natürlich generell der Indikator, der gegenüber dem Kurs stets kompliziert und mit hohem Aufwand zu errechnen ist. Wäre der Indikator nicht der Überlegene, so könnte man sich diese Art der Analyse ja auch sparen.
Gemeinhin unterscheidet man "bullishe" und "bearishe" Indikator-Divergenzen. Daneben lassen sich einfache, doppelte und multiple Divergenzen erkennen. Letztlich kann der Beobachter noch bezüglich der Zeitspanne unterscheiden, also die Frage stellen, ob eine Divergenz innerhalb mehrerer Tage, Wochen oder gar Monate auftritt. Ich behandle diese Unterscheidungsmöglichkeiten im Weiteren nicht. Sie sind eher didaktischer Natur, d.h. es treten keine (statistisch) signifikanten Regelmäßigkeiten auf. Die Prognosequalität dieser Signale für die künftige Kursentwicklung des Underlyings steigt also nicht eindeutig mit der Zahl ihrer Ausprägungsmerkmale oder mit einem verlängerten Divergenz-Zeitraum. Für die Praxis viel relevanter ist die Unterscheidung in "schwächere" und "stärkere" Divergenzen. In diesem Zusammenhang spricht man von Divergenzen der ersten, zweiten und dritten Ordnung oder von A-, B- und C-Klassen-Divergenzen.
Die in diesem Beitrag grafisch dargestellten Divergenzen sind alle bullisher Ausprägung, d.h., sie kommen innerhalb von Abwärtsbewegungen der Kurse vor.
Das erste Chartbild zeigt die stärkste bullishe Divergenz, die so genannte bullishe A-Klassen-Divergenz am Beispiel der Deutschen Telekom im September und Oktober 2000 Dt. Telekom bullishe, doppelt ausgeprägte A-Klassen-Divergenz
Die Kurse (Candlestick-Chart) fallen dabei in den Situationen A, B und C auf ein jeweils neues Tief, während der hier dargestellte RSI-(Relative-Stärke-Index) Indikator auf jeweils höherem Niveau nach oben abdreht. Die Meinungsverschiedenheit zwischen Indikator und reinem Kursverlauf war von Anfang an eindeutig und hat sich hier sogar noch ausgebaut. Ein Kursanstieg folgte. Derartige A-Klassen-Divergenzen sind generell sehr beachtenswert, denn sie kennzeichnen häufig gute Trading-Gelegenheiten in die Richtung der Divergenz. Schwächer in ihrer Aussagekraft für Kauf- oder Verkaufgelegenheiten sind die abgemilderten B- und C-Klassen-Divergenzen. Die zweite Abbildung zeigt eine bullishe B-Klassen-Abweichung im Fall der SAP-Vorzugsaktie im Oktober 2000.
SAP Vz. - bullishe B-Klassen-Divergenz
In den mit A und B gekennzeichneten Situationen bildet der Aktienkurs (Candlestick) einen doppelten Boden aus. Der RSI-Indikator strebte bereits nach oben und bildete einen höheren Tiefpunkt aus. Das Trigger-Signal war in diesem Fall der Wiedereintritt des Indikators aus der überverkauften Extremzone zurück in den Normalbereich. Ein Kursanstieg von 210 auf 240 Euro folgte. Dieses schwächere Signal sollte stets als Voraussetzung für eine Neupositionierung Beachtung finden, jedoch nur in Kombination mit "Auslösern" gehandelt werden. Letztendlich runden die in der unteren Abbildung gezeigten C-Classen-Divergenzen das Bild der Meinungsverschiedenheiten zwischen Kursen und ihren Indikatoren ab.
Neuer Markt Top-50 - bullishe C-Klassen-Divergenz
Im Fall des Nemax-Top-50-Index zeigte sich in der mit A und B gekennzeichneten Lage eine bullishe C-Klassen-Divergenz. Neue Tiefstände des Index (Kerzenchart) wurden dort von einem Doppeltief im RSI-Indikator begleitet – ein zwar ermutigendes, für sich genommen jedoch schwaches Signal.
Verstehen Sie Divergenzen, vielleicht mit Ausnahme der recht gut handelbaren A-Klassen-Divergenzen, bitte nicht als sofortige Kauf- oder Verkaufssignale. Vergleichen Sie sie lieber mit einer Verkehrsampel, die auf "Gelb" springt – im Fall der bullishen Divergenz von Rot auf Gelb, bei der bearishen Divergenz von Grün auf Gelb. Kombinieren Sie aber divergente Ausgangslagen als Voraussetzung mit Kauf- oder Verkaufssignalen anderer Indikatoren, so haben Sie die höchsten Wahrscheinlichkeiten auf Ihrer Seite.
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